Der Peemaisel

14.9.2011, 12:00 Uhr
Der Peemaisel

© privat

(Für Peter Bonnländer)

La...lalalaa...la.“

Der kleine Peemaisel versuchte bereits in seinem Vogelei die Melodie zu singen.

Aber schon von Anfang an wollte es ihm nicht gelingen.

Als es an der Zeit war, pickte er im Rhythmus der Noten, die in seinem Kopf gefangen waren, seine Behausung auf, denn er war sehr musikalisch.

Als er endlich auf einem Zweig sitzen konnte und vor sich hin sang, bezauberte er damit alles Lebendige um sich herum. Der Peemaisel ist ein seltener und sehr verspielter Vogel. Mühelos erfindet er Melodien oder imitiert andere Vögel täuschend echt. Er hat ein besonderes Talent zum Nestbauen, deshalb ist er sehr beliebt unter den Peemaisen.

Doch diesen Peemaisel zeichnete noch eine Besonderheit aus, er hatte, was nur sehr, sehr selten vorkommt, Augen wie Diamanten. In ihnen spiegelte sich der blaue Himmel, was jeden entzückte, der seinen Blick auffing. Er war ein fröhlicher Vogel, der sehr gesellig war und gerne mit anderen Musik machte und bis zum Morgengrauen tanzte.

Andere Peemaisen wollten ihn zur Vernunft bringen und ermahnten ihn, ein ordentliches Leben zu führen, wie es sich für echte Peemaisen gehört, doch er wollte davon nichts wissen.

Am liebsten flog er rasend schnell den Himmel entlang. Wenn der Wind um seine Ohren sauste und durch sein Gefieder ging, fühlte er sich frei und unabhängig, dann strahlten seine Augen, und sein Gesang war kräftig und hatte etwas Magisches an sich, was alle anderen verstummen ließ, denn seine Melodien regten alle zum Träumen an.

Es gab nur eine Sache, die ihn schwermütig machte. Er hörte immerzu diese Melodie, die er nicht ausdrücken konnte, die ihm einfach nicht über den Schnabel gehen wollte. Er hätte sie so gerne mit seinen Freunden und der ganzen Welt geteilt. Sie war schwer und unbekümmert zugleich, sie war verspielt und traurig, sie plätscherte wie fröhliche Meereswellen und das wilde Rauschen des Windes in den Bergen, sie war unfassbar und einzigartig. Diese Melodie lief immer im Hintergrund und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er versuchte mit allen Mitteln, an die Töne in seinem Kopf heranzukommen. Der große Peemaisel-Rat suchte mit den stärksten Lupen in seinem Kopf danach, alte und weise Peemaisen gaben ihm spezielle Kräuter zu fressen, er selbst steckte den Kopf unter Wasser, um nur noch das Rauschen seiner Gedanken und die Melodie zu hören, doch es half alles nichts. Auch die Peemaisen der entlegensten Länder mit ihrem uralten Wissen konnten ihm nicht helfen. Und die Melodie wurde immer stärker und stärker.

„Die Melodie wird für immer in mir gefangen sein“, sagte er traurig zu sich. Wie ein undurchsichtiger Schleier legte sich diese Erkenntnis auf sein Gemüt und ließ ihn immer freudloser werden.

Er sang nicht mehr, er flog nicht mehr, und seine Augen wurden grau.

Die anderen waren sehr besorgt um ihn, was ihn noch trauriger machte, denn er wollte niemandem Sorgen machen.

Deshalb zog er sich mehr und mehr zurück.

Er ließ sein Gefieder hängen und baute sich ein Nest aus vielen tausend Zweigen, die kaum noch eine Lücke ließen für das Sonnenlicht, das immer wieder versuchte, ihn zu kitzeln.

Alle vermissten sein Lachen, seine Lieder und das blitzende Blau des Himmels in seinen Augen. Eines Nachts, als es besonders dunkel war in seinem Nest, klopfte es plötzlich an seiner Tür. Eine Nachtigall stand davor und hatte es sehr eilig.

„Lass mich rein, Peemaisel, ich verrate dir auch das Geheimnis.“

Der Peemaisel wollte sie zuerst nicht hereinlassen, weil er niemanden sehen wollte, aber sie machte ihn neugierig, denn Nachtigallen sind die musikalischsten Sänger unter den Sängervögeln, die problemlos alle Melodien singen können.

Vielleicht wusste sie ja wirklich Rat.

„Du willst doch wissen, wie du diese Melodie aus deinem Kopf bekommst, stimmt’s?“

„Ja, das ist alles, was ich will, nur das. Weißt du, wie es geht?“

„Also, nicht ganz genau, aber ich kannte mal einen Peemaisel, vor vielen, vielen Jahren, dessen Großvater hatte das gleiche Problem wie du.“

„Ach ja?“, der Peemaisel wurde hellhörig und tippelte aufgeregt hin und her. „Erzähl! Erzähl!“, rief er ungeduldig und flatterte mit den Flügeln.

„Es ist nicht einfach, das sage ich dir gleich. Soweit ich weiß, stieg er auf den höchsten Punkt der Welt, wo man über alles einen Überblick hat, und entschloss sich aus ganzem Herzen, alles aufzugeben, was er hatte. Alles!“

Der Peemaisel sah die Nachtigall ungläubig an. „Was meinst du damit?“

„Das ist alles was ich weiß. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.“

„Und dann kommt die Melodie raus?“, fragte er sie zögerlich.

„Angeblich schon.“

Als der Peemaisel nichts mehr sagte, weil er ins Grübeln versunken war, verabschiedete sie sich und fand selber zur Tür, denn sie musste wieder weg zu einem Termin.

Ab diesem Zeitpunkt grübelte der Peemaisel Tage und Wochen über die Worte der Nachtigall. Was meinte sie nur damit, man müsse alles, alles aufgeben? Als die Melodie wieder stärker wurde und alle anderen Gedanken erneut zu verdrängen drohte, beschloss der Peemaisel, sich auf den Weg zu machen.

Er räumte sein Nest auf und hinterließ eine Nachricht, dass er zum höchsten Punkt der Welt aufgebrochen sei. Dann machte er sich auf den Weg.

Ein mächtiger Wind pfiff ihm um die Ohren.

Er riss an seinem Gefieder und ließ ihn frösteln. Der Peemaisel stellte sich ganz an den Rand des höchsten Punktes der Erde und schaute ängstlich in die Tiefe. Ein riesiger, dunkler Schlund tat sich vor ihm auf.

In seinem Kopf hämmerte es pausenlos „Alles aufgeben! Alles, alles aufgeben!“

Da wurde ihm klar, was er zu tun hatte.

Um zu beweisen, dass er es wirklich ernst meinte, suchte er sich einen großen Stein, den er sich um den Hals band, damit er nicht einfach seine Schwingen ausbreiten und fliegen konnte, denn das wäre ja geschummelt.

Er sah in den Himmel, der sich über ihm wölbte. So nah wie jetzt, war er ihm noch nie.

Seine Augen blitzten auf, als ihn ein Sonnenstrahl traf, der ihn elektrisierte.

Dann ließ er sich fallen.

Der Stein zog ihn in einer irren Geschwindigkeit in die Tiefe. Bäume, Felsen, Sträucher, Gras, alles sauste an ihm vorbei. Der Peemaisel öffnete den Schnabel und schrie aus Leibeskräften. Und plötzlich, als er schon den Erdboden vor sich erblickte, hörte er sie.

Er hörte seine Melodie, die aus seiner Kehle drängte. Es waren die gleichen Töne, die sein ganzes Leben lang in ihm gefangen waren. Er spürte, wie sie alles aufsprengten in ihm, wie alles, was ihn bisher begrenzte, aufriss und aufatmete. Der Peemaisel fühlte, wie seine Melodie ihn nach oben riss, und erfuhr eine tiefe, majestätische Befriedigung. Mit Leichtigkeit breitete er seine Schwingen aus und sang seine herrlichen Töne der ganzen Welt entgegen.

In jenem Moment hielt für einen Augenblick alles inne. Die Vögel sangen nicht mehr, der Lärm verstummte, der Atem der Welt setzte für einen Herzschlag aus.

Der Peemaisel flog dem Blau entgegen, das in seinen Augen glänzte und verschmolz mit ihm zu einem einzigen klaren Ton, den der Wind mit sich davontrug.

 

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