Die Gedanken sind frei

24.7.2012, 09:00 Uhr
Die Gedanken sind frei

© Scherer

Im Geiste noch mit dem Ärger des Arbeitstages beschäftigt, bog ich um die Ecke in meine Straße, und da stand wieder vor den zwei Stufen zum Parterre jene seltsame Frau, über deren Herkommen die ganze Gegend rätselte. Jeden Tag stand sie da, ihr Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Ganz gelassen stand sie da und rauchte. Stets trug sie Kostüme in Braun oder Schwarz, die fatal an gewisse Uniformen erinnerten, die man heute zum Glück nicht mehr auf der Straße sieht. Nicht zuletzt deswegen zerrissen sich alle Nachbarn seit Wochen das Maul über sie.

Hinter ihr gähnte dunkel der Eingang zu einem Laden, den sie offenbar betrieb, doch niemand wusste, welchem Geschäft sie nachging. Im Schaufenster hingen seltsame Gegenstände, schwarze Knäuel, eingesponnenen Tennisbällen oder Flughunden ähnelnd, und im Zwielicht, das im Inneren kauerte, waren mühsam zwei oder drei Sessel zu erkennen sowie ein schwarz lackierter Tisch.

Die Spekulation kannte keine Grenze. Manche hielten die Dame für eine geflüchtete syrische Geheimagentin, die mit exotischen Tieren aus ihrer Heimat handele. Andere behaupteten hinter vorgehaltener Hand, sie sei eine Giftmischerin aus Aserbaidschan oder Turkmenistan, die mumifizierte Föten — Tier? Mensch? — zu Heiltränken verarbeiten würde, während eine dritte Fraktion in dem Laden ein Bordell vermutete, in dem gewisse Menschen von ihr entsprechende Dienstleistungen erhielten. Über diese wollten zwar alle Bescheid wissen, allerdings wagte keiner, laut darüber zu reden. Es sei einfach zu abstoßend. Mit der Fremden selbst gesprochen hatte natürlich noch niemand; jeder heuchelte Desinteresse und spann zugleich insgeheim lästerlichste Verdächtigungen.

Als ich an ihr vorbeiging, versuchte ich wie an etlichen Abenden zuvor, ihrem Blick auszuweichen. Doch wie noch jedes Mal zuvor zog es meine Augen wie unter Zwang hin zu ihr, und ich lächelte ihr verkrampft zu, ehe ich zum Eingang meines Hauses hastete.

In der folgenden Nacht dann träumte ich von dieser Frau. Ein knallrotes Kleid hatte sie diesmal an, rote Stilettos mit fünfzehn Zentimeter langen Absätzen trug sie, die Haare standen ihr wirr vom Kopf. Eine schwarze Zigarre rauchend lungerte sie im Eingang des Ladens. Ich verharrte reglos daneben auf dem Gehweg, als das Motorengeräusch eines schweren Geländewagens anschwoll, der mit nahezu Schallgeschwindigkeit die Nürnberger Straße heraufschoss. Wieder einer dieser Narren, sagte ich, ohne den Mund zu öffnen, Narren, die ihr minimales Selbstbewusstsein zu steigern trachteten, indem sie aus der Straße eine Rennstrecke machten. Maßlos kann ich mich über diese rücksichtslosen Automobilfanatiker ärgern. Im Traum hörte ich das ohrenbetäubende Röhren näherkommen, spürte, wie mein Herz vor Wut schneller schlug.

Die Schöne im roten Kleid griff hinter sich und zog aus dem Bund ihres Rockes eine böse funkelnde, schwarze Waffe. Es knallte laut, die Scheibe des rasenden Boliden splitterte, der Fahrer verlor die Kontrolle oder war schon tot, als sich der Wagen überschlug und gegen den Mast der Ampelanlage an der Jakobinenstraße krachte.

Da erwachte ich. Ich war schweißgebadet. Das war krass, dachte ich, steckt in mir tatsächlich ein unausgesprochener Wunsch nach Brutalität? Als ich wenig später das Haus verließ, stand die reale Frau vor dem realen Laden. Obwohl ich ihre Augen hinter den schwarzen Gläsern nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie mich beobachtete, und plötzlich hielt ich es nicht mehr aus, ständig so zu tun, als ob ich sie ignorierte. Ich fasste mir ein Herz und sprach sie an. Guten Morgen, sagte ich, wie geht’s? Genau in diesem Moment schwoll auf der Straße das Röhren eines PS-Monsters so stark an, dass ich nicht weiterreden konnte. Zwar ungewöhnlich für die frühe Tageszeit, aber da kam schon wie in meinem Traum ein übermotorisiertes Gefährt mit fünfzehnfach überhöhter Geschwindigkeit herangebraust.

Die geheimnisvolle Frau griff hinter sich und fummelte an einer Gesäßtasche ihres engen schwarzen Rocks. Mir stockte der Atem.

„Die Gedanken sind frei — nicht wahr?“, sagte sie und zog einen Mundwinkel um ein Winziges nach oben.

Dann holte sie das Feuerzeug hinter ihrem Rücken hervor und zündete sich eine neue Zigarette an, während der Wagen vorbeiraste.

„Und von wem stammt noch mal: ,Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern‘? Beinahe ein Widerspruch, oder?“

„Rosa Luxemburg“, antwortete ich automatisch.

Und als ob sie lesen konnte, was mir durch den Kopf ging, fuhr sie fort: „Vergessen Sie alles, was man Ihnen über mich erzählt hat. Ich habe hier ein Büro für Übersetzungen aus dem Mittelbulgarischen eingerichtet. Also Kirchenslawisch. Sie haben noch die Chance, mein erster Kunde zu werden.“

„Sehr freundlich, aber vielen Dank“, sagte ich lachend und beschloss, dass diese Begegnung eigentlich ein schönes Thema für eine Kolumne über die Freiheit der Gedanken sein könnte. 

 

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