Die Rekordsängerin in Roßtal

3.3.2019, 13:00 Uhr
Die Rekordsängerin in Roßtal

© Foto: Fiedler

"Freilich haben wir dieses Jubiläum ein wenig mit dem Chor gefeiert", erzählt die Jubilarin und zeigt sich ein wenig stolz darauf, dass sie nicht nur mit Engagement all die Jahre gesungen, sondern fast keine Chorprobe und keinen Auftritt verpasst hat. Allein das über sieben Jahrzehnte durchzuhalten, bedarf Anerkennung. Denn auch Halsschmerzen waren für sie kein Grund, daheim zu bleiben: "Selbst beim Zuhören kann man viel lernen."

Wem Irmgard Wagner einen kleinen Einblick in ihr Leben gewährt, der lernt ein unglaublich rühriges Mitglied der Gesellschaft kennen. Denn neben der Familie — die stand immer an erster Stelle — und dem Haushalt hatte sie ihren Beruf als Erzieherin, das Ehrenamt in Turn- und Diakonieverein, im Kirchenvorstand und natürlich im Chor, dessen "Frontfrau und Ansprechpartnerin" sie von 1988 bis 2014 war.

Trost und Ermunterung

"Musik und Singen, das bedeutet mir unglaublich viel", beschreibt Irmgard Wagner ihr Lebensgefühl. Sie liebt die Texte der Kirchenlieder — nicht nur, weil sie gesungen zum Kunstwerk werden, sondern weil sie den Menschen durchs Leben tragen, ihn begleiten, trösten und ermuntern können.

"Man muss sich ihnen nur öffnen", sagt Irmgard Wagner. Sie bezeichnet zwei ihrer Lieblingslieder "Du meine Seele singe" und "Weiß ich den Weg auch nicht" als Wegbegleiter durch ein Leben voller Heraus- und Anforderungen.

Schon Wagners Vater Peter Hemmeter war ein "begeisterter, ein Supersänger", schwärmt seine Tochter. Wenn er ein Lied während seiner Arbeit in der Schneiderwerkstatt anstimmte, saß die kleine Irmgard dabei. Eine der wenigen Augenblicke, in denen das ansonsten lebhafte Kind nicht herumwuselte und Unfug anstellte.

Bei aller Zartheit sei sie ein wildes Mädchen gewesen, das aber so tapfer und mutig war, dass es auch bei den Buben mitspielen durfte. Eishockey auf dem "Spitzweed" etwa, mit irgendwelchen geschenkten Kufen an den Schuhen. Irmgard Wagner muss angesichts solcher Erinnerungen schmunzeln.

Als harte Zeiten beschreibt sie die Lebensumstände der sogenannten "kleinen" Leute. Ihre Erzählungen werden zu einer Zeitreise durch die Geschichte unseres Landes. 1936 ins Nazideutschland hineingeboren, erlebt sie wenige Jahre später, dass der geliebte Vater nicht aus dem Krieg heimkehrt. Die Not der Nachkriegsjahre prägen das junge Mädchen. "Sparsamkeit, Durchhaltevermögen und Zielstrebigkeit haben wir gelernt", resümiert die 83-Jährige.

Und sie wird sehr nachdenklich. Als Mitglied des Chores hat sie von der Empore herab viele Veränderungen registriert. So ein Blick auf die Kirchengemeinde kann zum Seismografen werden, der Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge anzeigt. Irmgard Wagner hat dieser Blick gezeigt, dass sich etwas verändert im Leben der Menschen.

"Die Kirchenbänke haben sich geleert." Sie sieht auch, dass selbst an hohen Feiertagen oder Konfirmationen Menschen Platz nehmen, die nicht einmal mehr ein Gesangbuch besitzen. Und sie spürt eine Unruhe, eine Geschäftigkeit, die die Andacht und die Konzentration auf die Begegnung mit Gott stören.

"Wahrscheinlich geht es uns allen zu gut." Irmgard Wagner steht mit diesem Erklärungsversuch nicht allein da. Selbst der Chor ist Veränderungen unterworfen. Denn die rund 50 Frauen und Männer, die sich wöchentlich zur Probe treffen, an Karfreitag und an Ostern, im Advent und an Weihnachten und vor allem bei Konfirmationen singen, sind alle in die Jahre gekommen.

"Wir sind ein alter Chor", spinnt Roßtals Rekordsängerin den Faden fort. Es kommen keine Jungen nach. "Es fehlt wohl an Zeit", grübelt sie und sinniert, dass für die wirklich wichtigen Dinge im Leben eigentlich immer genug Zeit sein müsste, wenn man sie sich nur nehme. Kopfschüttelnd berichtet sie, wie junge Menschen Stunde um Stunde am "Wischkästle" verplempern und weiß doch, dass sich die Zeitläufte unumkehrbar geändert haben.

Zehn Chorleiter erlebt

Für sie war es eines der traurigsten Ereignisse, als der langjährige Kirchenmusikdirektor, Wolfgang Schmidt von einem auf den anderen Tag sein Engagement aufkündigte. War es doch auch seiner Arbeit zu verdanken, dass die Roßtaler Josef Haydns Großwerk "Die Schöpfung" sangen und vom Kirchenchor zur Kantorei aufstiegen. "Dass ich so etwas als Laiensängerin erleben durfte!" Wagner spürt dem Ereignis nach, das zum Höhepunkt ihres Sängerinnenlebens wurde.

"Noch habe ich meine Gesangsstimme", freut sich die gebürtige Roßtalerin und sieht aber der Tatsache, dass ihr Alt eines, vielleicht frühen Tages, versagen könnte, mit Fassung entgegen. Dann wird sie, die zehn Chorleiter erlebte, aufhören mit dem Chorgesang. Denn noch mit 83 Jahren gilt für Irmgard Wagner: "Was du tust, das tue ganz."

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