Die süßesten Früchte

23.10.2012, 09:31 Uhr
Die süßesten Früchte

© Winckler

Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere“, brummte Hannes Hund halblaut vor sich hin. Er lag behaglich ausgestreckt unterm Kirschbaum und genoss die vom Laub gefilterte Mittagssonne.

Wie ging das Lied nochmal weiter? Nur weil die Bäume hoch sind... „Ist dir klar, was du da singst?“, fuhr Paul Pinguin ihn an. Unwillig sah Hannes Hund auf. „Mann, Paul“, knurrte er, „bleib locker!“ Aber das lag leider nicht in Paul Pinguins Verhaltensspielraum. „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere“, ätzte er, „toll! Findest du das vielleicht gerecht?“ Hannes Hund legte die Stirn in Dackelfalten. „Es ist nur ein Lied, Paul“, sagte er. Paul Pinguin war aufgesprungen. „Es ist ein beschissenes Lied, das die bestehenden Verhältnisse zementiert!“, rief er.

Katja Katze räkelte sich träge im Halbschatten. „Reg dich nicht auf, denk an deinen nervösen Magen“, schnurrte sie. „Aus einem Pinguin wird nie eine Giraffe, nimm’s endlich hin.“ Katja Katze provozierte gern, das wussten alle. Und Paul stieg jedes Mal darauf ein.

„Glaubt mir, es ist gar nicht so toll, groß zu sein“, sagte Elli Elefant versöhnlich. „Ständig stößt man sich den Kopf an, und man braucht lauter Maßanfertigungen, weil einem alles zu klein ist.“

„Maßanfertigungen“, schnaubte Paul Pinguin, „du merkst nicht mal, wie elitär du lebst!“ Elli Elefant war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie ruhte in sich selbst, was sicher auch mit ihrem kolossalen Gewicht zu tun hatte. „Soll ich dir ein paar Kirschen pflücken, Paul?“, bot sie an. „Mensch, du checkst es einfach nicht!“, rief Paul. „Es geht nicht um die paar Brosamen, die du mir gnadenhalber abgibst!“

„Schrei mich bitte nicht so an.“ Elli klang nun doch etwas verstimmt, in ihre Stimme hatte sich ein schriller Unterton geschlichen. „Ich glaube nicht, dass ich dir einen Grund gegeben habe, gehässig zu werden.“ Paul Pinguin trat zurück, um ihr in die Augen sehen zu können, ohne den Kopf allzu weit in den Nacken zu legen. „Elli, nimm’s nicht gleich wieder persönlich“, sagte er, „aber weißt du, wie das Lied weitergeht? Das Entchen zieht vor Gericht, weil es auch Kirschen will, aber dort heißt es, die Welt ist so gelenkt, dass sie den Kleinen nichts schenkt, damit müssen sie sich abfinden. Und den großen Tieren ist es natürlich recht so. Du bist echt die Ausnahme“, fügte er eilig hinzu. Elli Elefant seufzte. „Schon gut, Paul“, sagte sie. „Weißt du was, Kirschen schmecken gar nicht so toll. Und glücklich machen sie auch nicht.“

„Es geht doch gar nicht um die verdammten Kirschen“, rief Paul Pinguin. „Der Fisch stinkt vom Kopf her!“ – „Wie meinst du das?“, fragte Hannes Hund ertappt. Er hatte unweit des Kirschbaums einen alten Fisch verbuddelt, den er Bauch oben treibend im Schilf entdeckt hatte, und argwöhnte, dass Paul ihm diesen Leckerbissen streitig machen wollte. Aber Paul hatte andere Sorgen. „Es geht ums Prinzip!“, rief er. Katja Katze ließ spielerisch die Krallen sehen. „Paul“, sagte sie sanft, „du hast drei Möglichkeiten: Erstens, du machst so weiter und bekommst ein Magengeschwür, zweitens, du findest dich damit ab, dass du nicht der Größte bist, drittens, du wirst aktiv. Geh doch zu Attac oder zu den Piraten. Tu was und verschone uns mit deinem Gemaule.“

„Klar. Immer schön den Deckel drauf. Typen wie ihr sorgen dafür, dass alles so bleibt, wie es ist“, sagte Paul verbittert. Er versetzte dem Kirschbaum einen Tritt. Und noch einen. Hannes Hund sah ihm stirnrunzelnd zu. Paul war ein Choleriker. Aber er hatte recht. Hannes verspürte einen Anflug von Scham. „Weißt du was?“, sagte er zu Katja Katze, „ich sehe es eigentlich genauso wie Paul. Und was tue ich? Nichts!“ Er sah, dass Elli zu Paul hinüberging und leise auf ihn einredete. Mit bebender Stimme fuhr er fort: „Es kann doch nicht sein, dass ich sehe, was schief läuft, und es einfach hinnehme. Ich habe mein Leben verfehlt! Ich müsste kämpfen!“

Katja starrte ihn an. Ihre Pupillen waren Schlitze. „Sei nicht albern“, sagte sie. „Du bist überhaupt nicht zum Aktivisten geschaffen, und zum Politiker erst recht nicht. Sitzungen, Ausschüsse, Kompromisse machen, parteikonform abstimmen, das würde dich viel mehr zermürben als die Gewissensbisse, die du jetzt hast.“

Hannes kratzte sich hinterm Ohr. „Stimmt“, brummte er. Er schielte zu Elli und Paul hinüber. Was trieben die denn da? Paul stand auf Ellis Schultern und pflückte Kirschen. Die beiden wurden von Lichtsprenkeln umtanzt, die durch die Blätter fielen, und gaben ein zauberhaftes Bild ab. Fast hatte es ein wenig Zirkusflair. Paul drehte den Kopf, als habe er Hannes’ Blick gespürt. „Kommt, macht mit“, rief er. „Ich mag keine Kirschen“, gab Hannes zurück „Es geht doch ums Prinzip“, beharrte Paul. „Mir nicht“, sagte Hannes, „aber lass es dir schmecken.“ Er fühlte sich wieder mit sich und der Welt im Reinen. Zufrieden trottete er zum Kirschbaum hinüber und begann, seinen Fisch auszugraben. 



 

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