Diskussion in St. Michael: Wer hat Schuld?

4.10.2019, 11:00 Uhr
Auch ums Geld ging es in der Diskussion.

© dpa/Monika Skolimowska Auch ums Geld ging es in der Diskussion.

Und so hatte jeder der Eingeladenen seinen eigenen Zugang zum Komplex Schuld und Schulden. Thomas Schöck, Mitglied der Stiftung Ludwig-Erhard-Haus und Ex-Unikanzler, verwies auf die drei Säulen der sozialen Marktwirtschaft: Freiheit, Verantwortung, sozialer Ausgleich. Während der Staat unverschuldet in Not Geratene unterstütze, müsse persönliche und unternehmerische Freiheit Konsequenzen haben: "Das System würde zusammenbrechen, wenn Schuldner keine Verantwortung mehr tragen müssten." Dieses Prinzip sei während der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 vehement verletzt worden.

"Ungleichheit ist ein strukturelles Problem"

Andreas Schneider vom Welthaus prangerte die globale Ungleichheit an: "Sehr wenige haben sehr viel und sehr viele haben sehr wenig." Das sei aber weniger die Schuld bestimmter Politiker oder Wirtschaftsbosse, sondern ein seit dem Kolonialismus gewachsenes strukturelles Problem.

Daniela Eisenstein, Leiterin des Jüdischen Museums Franken, unterscheidet zwischen Außen- und Innenperspektive. Im Mittelalter wur-de den Juden aus vorgeschobenen Gründen Brunnenvergiftung oder Hostienfrevel unterstellt — sie trügen demnach also selbst die Schuld an Verfolgung und Vertreibung.

Andererseits setzen sich Menschen jüdischen Glaubens regelmäßig zwischen dem Neujahrsfest und dem Versöhnungsfest Jom Kippur mit persönlicher Schuld und Fehlverhalten auseinander. "Das ist eine ernste, kathartische Zeit, in der das eigene Handeln hinterfragt wird", so die Fürther Museumschefin.

Das Gefühl, nicht nur Schulden, sondern Schuld zu haben, kennen besonders die Klienten von Stephan Butt. "Praktisch keinem ist dieser Zustand egal, und das führt häufig zu psychischen Problemen", sagt der bei der Schuldnerberatung des Diakonischen Werks tätige Butt.

Er kritisiert das Verhalten mancher Inkassounternehmen und fragt, inwieweit diese nicht selbst Schuld trügen: "Man sollte das Konzept des Schuldenkaufens und -Vermehrens durch zusätzliche Gebühren schon einmal moralisch hinterfragen", findet er.

Existenzielle Frage

Wolfgang Sperber vom Sozialen Zentrum Wärmestube machte eben-falls auf die psychosozialen Wirkungen von Schulden aufmerksam. Zu Schulden und Armut geselle sich die Wohnungsnot: "Viele Hilfesuchende haben Schufa-Einträge und es damit noch schwerer, an einen Mietvertrag zu kommen. Dadurch wird die Schuldenfrage existenziell." Auf Schulden folge Scham; "Schuldner machen sich klein, manche erkennt man schon an ihrem Gang und Auftreten."

Moderator Jörg Sichelstiel, evangelischer Dekan in Fürth, fragte, inwieweit in bestimmten Fällen nicht ein Schuldenerlass angemessen wäre. Im Vergleich zu den gesamtgesellschaftlichen Schulden in der Bundesrepublik müsse die Klientel der Wärmestube jedenfalls unverhältnismäßig harte Konsequenzen tragen, so Sperber. Eisenstein wiederum monierte die häufig fehlende gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Schuldnern.

Welthaus-Vertreter Schneider erin-nerte daran, dass die meisten Länder des globalen Südens noch immer Kredite an Deutschland zurückzuzahlen hätten und gleichzeitig unter der Wirtschaftspolitik der Industrieländer leiden: "Der größte Skandal ist es, dass Menschen 14 Stunden und mehr am Tag arbeiten – und trotzdem müssen sie und ihre Familien hungern."

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