Ein bewegtes Leben

5.6.2014, 21:00 Uhr
Ein bewegtes Leben

© Horst Linke

Ganz dezent hält Elsie Slonim ihren schwarzen Gehstock unter dem Tisch verborgen – den einzigen sichtbaren Beweis dafür, dass sie in diesem Raum allen anderen an Lebensjahren voraus ist. Ihre wachen Augen, die – so abgedroschen der Ausdruck auch erscheinen mag – tatsächlich blitzen, ihre aufrechte Haltung, der sorgfältig aufgetragene rote Lippenstift und die schwungvoll frisierten Haare sprechen eine andere Sprache. Elsie Slonim wird von ihren Erinnerungen erzählen, doch ihre Welt, daran lässt sie keinen Zweifel aufkommen, ist von heute.

Als sie 1917 in New York geboren wurde, schickte US-Präsident Wilson gerade amerikanische Truppen auf die europäischen Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges. Elsie Slonims Vater hatte als Einwanderer aus Ungarn in den Staaten eine kleine Textilproduktion aufgebaut. Trotzdem entschied er sich 1919, mit seiner Familie zurückzugehen. Seine Töchter wachsen deshalb in Baden bei Wien auf. „Mein Vater wollte uns zu grazilen jungen Damen erziehen, wir sollten graziös Tennis spielen, elegant schwimmen und reiten“, amüsiert sich die 96-Jährige und führt vor, wie ein Luft-Tennisschläger anmutig geschwungen wird. Ihre unbeschwerte Kindheit endet jäh. „Ich bin auf eine sehr exklusive Schule gegangen, plötzlich trug jeder ein Hakenkreuz oder das Zeichen der Dollfuß-Anhänger – und ich hatte keine Freundinnen mehr.“ Stattdessen skandieren die anderen Mädchen Spottverse.

Als sie spazieren geht, wird sie von jungen Nazis angefallen und immer wieder zu Boden gestoßen. Fassungslos überlegt die alte Dame: „Ich trug doch ein Dirndl, ich dachte, ich sei Österreicherin. Aber ich hörte, wie sie ,Jüdin‘ flüsterten.“ Verängstigt entschließt sie sich kurz vor dem Abschluss, der Matura, die Schule zu verlassen. Eine überstürzte Heirat und ebenso schnelle Scheidung erzürnen ihren Vater, der mittlerweile nach Rumänien gezogen ist. Er bricht mit ihr.

„Ich hatte einen US-Pass, weil ich in Amerika geboren wurde, das hat mir das Leben gerettet“, sagt Slonim schlicht. 1939 bricht sie in die Staaten auf. Ihre Familie, mit Ausnahme der Schwester, wird später von den NS-Schergen ermordet. Jahrzehnte später wird sie in Yad Vashem ausgerechnet mit einem Deutschen dieses grausame Trauma beweinen.

Auf der geglückten Ausreise lernt die junge Frau ihren späteren Ehemann kennen, David Slonim. Bis zu seinem Tod 2006 im Alter von 101 Jahren werden die beiden verheiratet sein. Gemeinsam gehen sie nach Zypern, werden bald darauf als Ausländer nach Israel evakuiert. Ihre Wanderjahre gehen weiter. David wird Vertreter für Jaffa-Orangen in Paris. „Das war eine schöne Zeit. Ich habe François Sagan kennen gelernt und Maurice Chevalier lebte auch noch.“ Ende der 60er zieht die Familie zurück nach Zypern. Sie bauen sich in Nord-Nikosia ein Haus. „Jeder durfte sich etwas dafür wünschen. Ich wollte eine Klimaanlage, David einen Luftschutzbunker.“ Die Nachbarn lachten. „Aber eines Morgens sah ich, dass der Himmel schwarz war vor Fallschirmspringern.“ Drei Wochen verbringt das Ehepaar in seinem Bunker, während um es herum die Auseinandersetzungen tobten. „Immer wenn es über uns gebumpert hat, haben wir überlegt, welches Zimmer jetzt zerschossen wurde.“

Wie durch ein Wunder dürfen sie als Einzige ihr Haus, das nun mitten im militärischen Sperrgebiet liegt, behalten. Doch bis heute müssen sich Besucher von Elsie Slonim drei Tage zuvor anmelden, um ein Visum zu bekommen.

Während die alte Dame berichtet, hören die Neuntklässler, die mit ihrem Lehrer Johannes Seuser gekommen sind, konzentriert zu. Slonims Besuch wurde unter anderem von Pfarrer Klaus Herold organisiert, der in Zypern arbeitet. Er moderiert nun das Gespräch. Ob sie den Jugendlichen wohl ihr Lebensmotto mitgeben könne, fragt Johannes Seuser zum Abschied. Elsie Slonim lächelt und zitiert Goethe: „Warum in die Ferne schweifen . . . Ihr Dichter, der auch meiner ist, hat recht. Man muss nicht weit reisen, es sind die kleinen Sachen, die ein Leben glücklich machen.“

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