Ein Dorf verschwand

9.5.2012, 22:00 Uhr
Ein Dorf verschwand

© Hans-Joachim Winckler

Das Dorf ist alt. Die älteste Erwähnung „finden wir in einer Verkaufsurkunde des burggräflichen Fischwasserlehens in der Regnitz vom Jahre 1398“, schreibt der Heimatkundler Werner Sprung und vermutet doch einen viel älteren Ursprung. Demnach „ist in der Zeit von 1000 bis 1100 an der Regnitzfurt eine kleine Siedlung von ein bis zwei Höfen entstanden, deren Zugehörigkeit zum ehemaligen Königshof Fürth angenommen werden muss“. Später soll sie an die Burggrafen in Nürnberg gegangen sein und im 13. Jahrhundert an die Domprobstei Bamberg.

Stadeln heißt das Dorf. Bauernhäuser- und höfe gab es hier, Wirtshäuser mit Gastgärten. Alles konzentrierte sich um einen kleinen Platz, der am Weg zum Fluss lag. Kein Straßendorf, mehr ein Flecken mit unregelmäßiger Bebauung, mit Gütern und Gütlein, mit Fischerhäusern, für ein paar Jahrzehnte mit einer Tabakfabrik, mit einer Schmiede, einem Metzger... So wuchs der Ort in seinen Grenzen und nie über sich hinaus. Eigenständig war man, im Spätsommer wurde auf dem Platz die Kirchweih gefeiert.

Als kurz vor Ende des 19.Jahrhunderts die Rheinisch-Westfälische Sprengstoff AG Grund und Boden in Stadeln erwarb, vollzog sich „der Schritt vom Bauerndorf zum Industriestandort“. 60 Jahre später, als das Kind die ersten Schritte auf Stadelner Boden tat, gab es mehr als diese „Pulver“, wie das offiziell „Dynamit Nobel“ genannte Munitionswerk im Volksmund hieß. Maschinenfabriken waren hinzugekommen, die Fabrikation von Beleuchtungskörpern und die Verarbeitung von Leichtmetall, später baute eine Spielzeugfirma mächtige Hallen an der Bahnlinie.

Und doch blieb dieses Stadeln in den 60ern noch ein Dorf, das sich durch ein großes Waldstück von der nahen Stadt abgrenzte. Die hatte den Ort noch nicht eingemeindet — und der Bürgermeister hieß Müller.

Die ersten Erinnerungen gehen zurück zum Haus auf dem Fabrikgelände neben dem Bahnhof, der seltsamerweise Vach und somit nach dem Nachbardorf hieß. Die Station hatte einen Vorsteher und einen Warteraum, der im Winter beheizt wurde. Am Schalter gab es Fahrkarten aus Pappdeckel und eine Maschine, die sternförmige Löcher hineinstanzte. Hinter einer Sperre wartete man auf Durchlass zu den Zügen. Die kamen werktags alle halbe Stunde, an Wochenenden erheblich seltener.

Die Bahnhofstraße war ein langer Weg, der aus endlosen Feldern hervorzukommen schien, sich durch die Siedlungen schlängelte und dann in die Erlanger Straße mündete. Locker verteilt zur rechten und linken Seite beschauliche Siedlungshäuschen mit Gärten, schmuck und sauber. Und im unvorstellbar großen Garten, der zu unserem Haus gehörte, standen mächtige Trauerweiden, an deren Ästen wir uns durch den Sommer schwangen. Die Stämme der Apfelbäume waren die Pfosten unserer Fußballtore, und ganz hinten, schon fast am Riedgraben, gab es einen Weiher mit kleiner Insel mittendrin und einem Ruderboot, vertäut an einem morschen Steg.

Zum Einkaufen wurde man geschickt in einen der beiden Läden, die es im Dorf gab: im „Edeka“ bekam man alles für den täglichen Gebrauch. Zudem hatte ein „Vivo“-Markt aufgemacht, durch dessen für uns riesige Auswahl man sich schon mit einem schmalen Einkaufswagen kämpfen konnte. Beim Metzger das obligatorische Stück Gelbwurst, das kein Kind in Wirklichkeit gerne aß. Bei den Bauern holte man Gemüse. Alles war in laufend erreichbarer Ferne, die einem immer als Nähe vorkam, weil der Weg stets ein Spaziergang war.

Kirche und Schule ließ man mitten im Dorf. Frühmorgens liefen wir die Bahnhofstraße entlang, immer mehr Kinder gesellten sich im Verlauf zu uns, und am Zebrastreifen der Hauptstraße kamen wir wie ein Pulk an. Es war stets wenige Minuten vor acht, und die Klingel gleich darauf schrillte wie eine Katastrophensirene. Doch das Volksschulhaus mit seinem roten Dach hatte gar nichts Furchteinflößendes; unweigerlich lief man irgendwann am Tag auch den Lehrern nochmal über den Weg, traf sie beim Kaufmann oder vor dem Rathaus.

Was gab es an großen Ereignissen im kleinen Dorf? Die Kolonnen der amerikanischen Militärautos und Kettenfahrzeuge, die die „Panzerstraße“ genannte Betonpiste hinunter, übern Fluss hinweg zur Kaserne rasselten. GIs warfen Kaugummis zu uns Kindern, die wir am Gehsteig standen. Die Kirchweih mit dem Bierzelt, das den halben Platz einnahm, und dem Autoscooter, der die andere Hälfte beanspruchte. Oder der Gang über die Bahnschranke rüber zum Steinacher Wäldchen: Gleich an den Gleisen stand noch ein kleiner Bunker aus dem Krieg. Hinterm Wäldchen gab es noch keine Autobahn; der alte Kanal dümpelte vor sich hin, am Ufer wuchsen Weiden, aus deren Holz man feine Pfeifen machen konnte.

Irgendwann zog man fort, das Dorf wurde einem zu klein, obwohl es stetig größer wurde. Heute donnert man durch Stadeln, wenn nicht die zahllosen Ampeln zum Halten zwingen, lässt den Stadtteil links und rechts achtlos liegen. Das Dorf hat Reiz und Charakter verloren, ist unförmig geworden, verwechselbar, scheint keine Barrieren mehr zu kennen: ermüdend gleiche Reihenhaussiedlungen haben die Einwohnerzahl um Tausende emporschnellen lassen; einfallslose Schlafstadt-Architektur wurde auf die Brachflächen gepflanzt, falls da nicht noch ein weiterer Supermarkt Platz brauchte. Die Bauern haben gut verkauft und aufgegeben, das Bahnhofsgebäude ist verwaist, den Ortskern markiert eine Kreuzung.

Nur noch von der Rückseite, auf dem Weg entlang des Flusses, lässt sich etwas von dem einstigen Dorf erahnen. Ein einziges stattliches Fachwerkhaus wurde sorgsam restauriert. Es steht, vom Autolärm umtost, wie ein Denkmal einer anderen Zeit, an die sich hier niemand mehr erinnert.

Manchmal trifft man einen Kumpel aus frühen Tagen, der nicht weggezogen ist. Es scheint, als sei ihm gar nicht aufgefallen, wie sehr sich unsere Heimat verändert hat. Und tatsächlich: Wir reden, und dann ist alles auf einmal wieder da — die Bahnhofstraße, die Tore aus Apfelbäumen, fröhliche Kinder in traurigen Weiden, der missglückte Sprung über den Riedgraben, der Lehrer hieß Göbel und hatte immer so einen roten Kopf...

Unsere Eltern liegen jetzt auf dem Friedhof in Stadeln, ein paar Gräber voneinander entfernt, so, wie wir damals im Dorf ja auch nicht weit voneinander wohnten.

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