Eine verlorene Seele stellt die Schuldfrage

12.2.2018, 17:30 Uhr
Eine verlorene Seele stellt die Schuldfrage

© Foto: Budig

"Wenn Sie gerne in Stücke gehen, die tief in düstere, aufgewühlte Psychen eintauchen, und die Sie reichlich mit Kotze und geronnenem Blut besudeln, dann ist das was für Sie!" So hat Kanadas größte Tageszeitung, der Toronto Star, nach der Premiere im Januar 2011 seine Kritik über "Oh my Irma" überschrieben. Um anschließend eine Lobeshymne auf die junge, in Toronto geborene Haley McGee zu singen, die das Stück während ihres Schauspielstudiums schrieb und bei der Uraufführung selbst die Rolle der Mission Bird übernommen hat. Warum man "Oh my Irma" im Deutschen in "Meine Irma, Deine Irma" übertragen musste, wüsste man allerdings gerne erklärt.

"Ja, ich war’s. Aber es war nicht meine Schuld", sagt die jugendliche Protagonistin Mission Bird kaum dass sie die Foyer-Bühne betreten hat. Das Theaterheft nennt sie verschroben, eine gänzlich unzutreffende Charakterisierung einer zutiefst verletzten, psychotischen jungen Frau, einer völlig zerrütteten armen Seele, eines verzweifelten Menschen, der — beiläufig und ohne Schuldgefühle — zu jeder denkbaren Aktion in der Lage ist.

Keine leichte Kost, doch ein grandioser Theaterabend im Nachtschwärmer-Foyer des Stadttheaters. Wir erleben gut eine Stunde furios gerappten Theatermonolog, mal verstörendes, mal einnehmendes Spiel, eine das Publikum fordernde und mit langem Applaus bedachte Mordsgeschichte.

Autorin McGee hat in ihren Ausführungen zum Stück immer wieder darauf beharrt, dass es sich dabei um eine Komödie handelt. Von einem Lustspiel zu reden, wäre dennoch irreführend. Wer aber den kruden Humor der Coen-Brüder im Film liebt, wird auch hier mit vertrauter Situationskomik bedacht. Mehr als Vergnügen bietet das Stück Gefühlsbäder von eisig bis dampfend. Die junge Frau, die um jeden Preis aufklären will, wer Irma, ihre Mutter getötet hat, schickt den Zuschauer hinein.

Mit einem Rollkoffer und einem Haufen Wäsche betritt Mission Bird die Bühne. In ihrer Ansprache wechselt sie ständig die Perspektive, überholt sich selbst, manchmal erzählt sie launig, dann verfällt sie vom selbstvergessenen Monolog in den aggressiven Egotrip. Ständig mischt sie vermeintlich Nebensächliches mit scheinbar Zielführendem bis zu Geheimnisvollem; mal heiter plappernd, mal intim raunend. Wir erfahren bruchstückhaft: Schon ihre Mutter, die verstorbene Irma, kam mit dem Leben gar nicht klar. Einnehmende Euphorie und blutige Selbstzerstörung müssen einander abgelöst haben. Missions Erzählweise passt sich diesen Begebenheiten an. Vermeintliche Erkenntnisse und neue Fragen gehen Hand in Hand: Welche Rolle spielt PP, der in Irmas Wohnung lebt und sich als Missions leiblicher Vater entpuppt? Warum hasst Mission Irma II, PPs kleinen fetten Köter, so?

Das hält das Nachtpublikum auf Trab und den Konzentrationspegel hoch: "Ich hatte keinen Plan, . . . ich hatte es nicht vor", verrät Mission unvermittelt. Man ist alarmiert, ahnt aber, das "Was" kann auch wieder alles sein. Unvermittelt wechselt sie die Rollen, zeigt was Irma, was PP und was ganz andere so meinen. Dann wieder wendet sie sich unvermittelt an jemanden aus dem Publikum – wie es verstörte Gestalten im Park manchmal tun – und wir erfahren Stück um Stück, was hier geschehen sein muss.

Dabei wird niemand verschont. Gerne walzt sie aus, wie sie minutenlang auf PPs stinkende Stiefel kotzt. Sie frisst und füttert aus der Hundefutterdose. Sie zerstört. PPs Lieblingsstatue, natürlich unabsichtlich. In die Auflistungen der Lebensdetails platzen große Gefühlsausbrüche: "Er wiegte seine Irma in den Armen. Ich würde mir die Fußnägel ausreißen, um einmal so gewiegt zu werden." Unzählige Ausflüge unternimmt Mission in ihr manisch-enttäuschtes, verlorenes Ich, ebenso viele Spuren legt sie. Am Ende gibt es durchaus eine Auflösung, die hier nicht verraten wird.

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