Forelle kopflos

10.12.2013, 09:42 Uhr
Eine Familienfeier am Rand des Eklats beschreibt Gisela Lipsky.

© Winckler Eine Familienfeier am Rand des Eklats beschreibt Gisela Lipsky.

Die Frage, was zu Weihnachten auf den Tisch kommt, birgt in vielen Familien einen gewissen Zündstoff. Familie W. bildet da keine Ausnahme. Saure Zipfel oder russische Eier, Gans oder Karpfen, darüber brechen regelmäßig wahre Glaubenskriege aus. Der aktuelle Kompromiss: Am ersten Feiertag reisen Sohn Felix und seine Freundin aus der Nachbarstadt an und braten für die ganze Familie – Vater, Mutter, Großmutter und Felix’ Schwester Linda, die noch bei den Eltern lebt – Forellen.

Das entspricht zwar nicht der Tradition, aber es schmeckt allen. Selbst die Großmutter murrt nur verhalten. Karpfen wäre ihr lieber, doch den mag keiner außer ihr. Sie soll sich nicht so haben, finden die anderen, immerhin ist die Forelle auch ein heimischer Fisch. Und der ganze Zinnober findet sowieso nur ihr zuliebe statt, der Rest der Familie würde lieber brunchen. Aber nachdem die Großmutter für diesen Fall mit einem Sprung vom Balkon gedroht hat, ist das vom Tisch.

Felix und seine Freundin haben das Kochen übernommen, weil die Großmutter dem kochfähigen Alter entglitten ist, der Vater noch nie kochen konnte, Linda nicht aus dem Bett kommt und die Mutter dem Kochen wenig abgewinnen kann. Ihre Interessen sind breit gefächert: Ikebana, Protestmärsche und vieles mehr, doch Kochen gehört nicht dazu. Schon der Anblick der fangfrischen Forellen ist ihr unerträglich. Das Essen bewältigt sie, aber die Fische müssen enthauptet werden, denn ein ganzes Tier auf dem Teller, das sie aus gebrochenen Augen anstarrt, verschlägt ihr den Appetit.

Also richten sich Felix und seine Freundin in der Küche ein und legen los. Die Großmutter sitzt schon erwartungsvoll am Tisch, Linda schläft noch. Felix und Freundin köpfen die Fische, salzen und pfeffern sie, wenden sie in Mehl. Zu diesem Zeitpunkt taucht Linda in der Küchentür auf, in einem Nachthemd mit Totenkopf-Aufdruck, mit wirrem Haar und Kajal-Rändern um die Augen, knautscht einen Gruß und zieht sich zum Telefonieren zurück.

Felix und Freundin braten derweilen die Forellen, der Vater öffnet den Wein, während die Mutter Amaryllisblüten mit Korkenzieherhasel dekoriert. Linda hat es geschafft, ihren Freund Phil wachzutelefonieren. Zum Glück wohnt Phil nicht weit weg.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Großmutter an Phils Anwesenheit zu schlucken haben wird. Sie ist kein Fan von meterlangen Dreadlocks und kann sich auch nicht vorstellen, dass man mit Freak Folk eine Familie ernähren kann. Vor allem aber nimmt sie es Phil übel, dass er nie grüßt. Dabei tut sie ihm unrecht. Phil grüßt durchaus, spricht aber so sonor und leise, dass man Fledermausohren braucht, um ihn zu verstehen. Wie auch immer, er ist Lindas Freund und als solcher zur Forelle eingeladen, darauf bestehen die weltoffenen Eltern W., ob es der Großmutter gefällt oder nicht.

Linda steckt den Kopf durch die Tür, immer noch im Totenkopf-Nachthemd. Sie rümpft die Nase, offenbar kann sie dem Duft der gebratenen Fische so kurz nach dem Aufstehen noch nichts abgewinnen, und sagt: „Ey, es ist doch okay, wenn der Mitch und der Flosse mitkommen, oder?“ Mitch und Flosse sind Phils Mitbewohner und spielen in seiner Band.

An dieser Stelle hat die Toleranz ein Loch. Es tut sich plötzlich und unerwartet auf, wie ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge. „Nein!“, brüllt es. Felix und Freundin, Vater W., Linda und selbst die Großmutter ducken sich, während sie zu orten versuchen, woher das Brüllen kommt. Es kommt von Mutter W., die in Stimmen redet, dabei ist gar nicht Pfingsten, sondern Weihnachten. „Nein!“, brüllt sie wie ein Berserker, „Es ist ab-so-lut nicht okay!“ Sie brüllt in einer Lautstärke, die verrät, welchem Druck sie ausgesetzt ist, zwischen den Fronten als fürsorgliche Tochter ihrer Mutter und tolerante Mutter ihrer Tochter, die ihre Toleranz gern mal auf die Probe stellt.

Die Großmutter, die nicht mehr so gut hört, fragt besorgt, wann es endlich etwas zu essen gibt. Linda hingegen schluchzt auf, wie unerträglich spießig und verlogen das alles ist, Weihnachten, das Fest der Liebe, und dann schlägt man anderen die Tür vor der Nase zu ... Damit stürmt sie aus dem Zimmer. „Kinder brauchen Grenzen“, sagt Vater W. ungerührt und nimmt einen Schluck Wein.

Am Tisch herrscht eine Art Waffenruhe. Phil taucht auf, grüßt ebenso höflich wie lautlos und nimmt neben Linda Platz, die sich bis dahin wieder beruhigt hat. Der Riss im Raum-Zeit-Gefüge hat sich geschlossen, Mutter W. zirpt mit gewohnt zarter Stimme. Und alle geben sich Mühe, sie nicht zu reizen. So ist das mit dem Fest der Liebe und den Grenzen der Belastbarkeit. Wenn Weihnachten nicht zum Eklat werden soll, muss eben jeder die eine oder andere Gräte schlucken. Egal, ob es saure Zipfel oder Forelle gibt – mit oder ohne Kopf.


 

Keine Kommentare