Fürther geben Tänzern ein Zuhause auf Zeit

1.12.2007, 00:00 Uhr
Fürther geben Tänzern ein Zuhause auf Zeit

© Thomas Scherer

Aber so ist das vielleicht, wenn völlig Fremde zu Besuch kommen für zwei Wochen und der chinesische Tänzer den deutschen Lehrer trifft. Dabei war Rainer Fliege ja vorbereitet. Er hat selbst schon in China gelebt, hatte fleißig mit Chen Kai gemailt und schon am Flughafen erzählt, dass er seinen «Bruder» abhole. Dann war er leicht schockiert, dass Chen Kai mit einen großen Vorrat an Instant-Nudeln anreiste. Man weiß ja nie . . . Für beide Seiten ist «Mayim Mayim» ein Abenteuer. Eines, das Mägen umstülpen und Köpfe durcheinander wirbeln kann. Alles neu, alles anders.

Rainer Fliege hat sein Schlafzimmer für den Gast geräumt und nächtigt auf dem Sofa, Heidi Tischendorf hat eine neue Tochter gewonnen, und Brigitte Hoffmann beginnt, sich für das Schicksal von Isaak Hallemann und den 33 Waisenkindern aus Fürth zu interessieren, die im Konzentrationslager ermordet wurden.

Feuer und Flamme

Und Chen Kai, die Amerikanerin Cassidy Stoker, Olive Lopez aus der Schweiz und Elvira Zuniga aus Costa Rica sind vor allem jung, aufgeschlossen und Feuer und Flamme für dieses irrwitzige Projekt. Im April ging die Einladung an Choreographen und Schulen in aller Welt, Videos wurden versandt, und am 17. November reisten die Tänzer schließlich an.

Bei Familie Tischendorf und Cassidy Stoker ist es Liebe auf den ersten Blick gewesen. «My Mum» schwärmt die 23-Jährige, und Heidi Tischendorf spricht ungeniert von ihrer amerikanischen Tochter. Dabei sind ihre eigenen Töchter längst selbst Mütter, sechs Enkel im Alter zwischen zwei und 18 Jahren gern gesehene Gäste in der Kutzerstraße. «A big family», sagt Heidi Tischendorf. Die blonde Cassidy mit dem makellosen Lächeln passt gut hinein.

«Nett und warmherzig» sei sie aufgenommen worden, sagt sie. Einen Ausflug nach Bamberg haben die Gasteltern mit ihr gemacht, nach Nussknackersuite und Rauchbier ging es ins Levi-Strauss-Museum nach Buttenheim, um die deutschen Wurzeln der uramerikanischen Jeans zu erkunden. Eine ganz neue Erfahrung - und endlich einmal genug Zeit zu reden.

Über die Ausbildung in den USA, ihre Vorliebe für den klassischen Tanz - in der Nussknackersuite etwa hat sie alle Rollen durch, von der Maus als Anfängerin bis zuletzt zur Zuckerfee - und die Staaten. Dort pendelt Cassidy zwischen dem Herkunftsort Baltimore, der Arbeit in New York und der Wildnis in Wyoming. Freund Michael lebt dort in den Bergen unter blauem Himmel, und Cassidy ist inzwischen «pretty good at roping», sehr gut im Lassoschwingen. Und Cowboystiefel trägt sie auch im Hause Tischendorf. Dort verabreicht die Gastgeberin Kraftfutter - Müsli, Obst und Fisch - in kleinen Portionen, denn die Tänzer trainieren täglich und ausdauernd. Oft von neun Uhr morgens bis halb zehn in der Nacht.

Trotzdem, die Augen glänzen. Cassidys Beitrag zu «Mayim Mayim» ist in der Woche vor der Aufführung streng geheim, ihr Stück - «das bin genau ich!» - Teil einer Choreographie von Nicolo Fonte. Auch Chen Kais Part ist schon gestaltet, gehört zur 2005 aufgeführten «Shanghai Beauty». Altbekannt und doch ganz neu: Statt Bachs «Wohltemperiertem Klavier» spielt nun ein trauriger, einsamer Bass. «Eine sehr bedeutsame Arbeit, dieses Stück aus dem Herzen zu erwecken», sagt Chen Kai. Der 31-Jährige gesteht, dass er sehr aufgeregt ist, Teil dieses Projekts zu sein - und er mag keine Sekunde Training verpassen.

Theater fasziniert

Eigentlich bleibt viel zu wenig Zeit mit seinem Gastgeber Rainer Fliege (42). Der Pädagoge ist vom Theater fasziniert, hat mit Schliemann-Schülern den «Kaspar Hauser» inszeniert und jüngst das Libretto zur Wassermann-Oper «Aus der Welt» geschrieben. Die beiden hören abends Musik, Keith Jarrett, Glenn Gould oder den Rosenkavalier. Und sie haben natürlich das Stadtpark-Café besucht.

Alles passt, sie verstehen sich wunderbar. Wer hätte das erwartet? Zwar hat Fliege nicht lange überlegt, obwohl er nur zwei Zimmer bewohnt und jeder Tänzer ein eigenes Zimmer zur Verfügung haben sollte. «Ich hätte ja auch eines dieser Waisenkinder aufgenommen, dann kann ich mal für zwei Wochen umziehen.»

Aber wer weiß schon, wer kommt? Im Fall der Hoffmanns aus Oberfürberg sind es zwei temperamentvolle junge Damen, Olive Lopez (20) , die in der Schweiz aufgewachsen ist und in Rotterdam Tanz studiert, und Elvira Zuniga (30) aus Costa Rica, die gerade die Folkwang-Schule in Essen abgeschlossen hat. «Mir gefällt es, dass wir zu dieser Idee und zu diesem Treffen von jungen Menschen aus der ganzen Welt beisteuern können», sagt Brigitte Hoffmann. Die Nachbarn hatten erst vor vier Wochen gefragt, die Zimmer der längst erwachsenen Söhne waren frei - also los.

Beiseite gelegt

Den spanischen Stadtführer für Olive haben sie gleich beiseite gelegt, denn die Staatsangehörigkeit hat die Tänzerin zwar vom Vater geerbt - ihre Muttersprache aber ist Französisch. Stattdessen entdecken die Gasteltern ein weiteres Kapitel Heimatgeschichte. Bernhard Hoffmann ist im Nathanstift geboren, weiß um die vielen jüdischen Wohltäter und ihre große Bedeutung für die Fürther Wirtschaft - das Schicksal Hallemanns war ihm so deutlich nicht bewusst.

Und mit dem Ballett - Brigitte Hoffmann hatte als Kind Stunden an der Stange - kommt der Baugutachter nun auch in Berührung. «Ich freue mich darauf, weil ich mir noch gar nicht vorstellen kann, was die beiden machen», sagt er. Bühne frei!