Haltung annehmen und richtig fliegen

26.3.2013, 08:49 Uhr
Haltung annehmen und richtig fliegen

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Haltung annehmen und richtig fliegen“, das hörte der Bussard jetzt schon zum tausendsten Mal. „Ich versuch’ es ja, aber der Boden ist so furchtbar weit weg. Wie soll ich da Haltung annehmen?“, fragte er seinen Ausbilder. „Du bist der schlimmste Flugschüler, den ich jemals gezwungen war zu unterrichten!“, schrie der blinde Affe zurück.

„Nimm Haltung an, ich sag dir das jetzt zum letzten Mal. Der Boden ist nur zwei Meter unter dir.“ Der Bussard schluckte und öffnete seine Augen, „Aber zwei Meter sind ziemlich viel. So hoch war ich noch nie. Ich...“ „Du bist ein scheiß Bussard, deine Artgenossen fliegen in Hunderten von Metern Höhe, und du pisst dir ins Gefieder wegen zwei Metern!“ Die Stimme des Affen überschlug sich, und er hüpfte vor Wut auf und ab.

„Es reicht mir jetzt mit dir, es ist Schluss mit der sanften Tour, du hast es nicht anders gewollt.“ „Nein, bitte, ich bin doch noch so jung“, jammerte der Vogel. „Ha“, tobte der Affe weiter, „du bist jung und auch dumm, jetzt üben wir den Sprung, mit richtig großem Publikum!“ „Oh Gott, oh Gott, jetzt reimt er“, flüsterte der Bussard ängstlich vor sich hin. Wenn der Affe anfing zu reimen, war das das Zeichen, dass ihn das Flugfieber gepackt hatte und er logischen Argumenten nicht mehr zugänglich war. Immer wenn er reimte, passierte einem der Schüler etwas Schreckliches, so erzählte man es sich im Ausbildungslager. „Ich muss leider ganz dringend weg, Chef“, versuchte der Bussard sich noch herauszuwinden, „du weißt doch, mein jährlicher Sehtest steht an, und...“

„Vergiss es, du Memme, nimm dir ’ne Bemme, das Sehen wird aus meiner Sicht überbewertet, du kleiner Wicht.“ So allmählich wurde der Affe immer fröhlicher. „Ja, du hast gut reden, du blinder alter A... Affe“, der Greifvogel hatte sich gerade noch rechtzeitig besonnen, er wollte den Affen lieber nicht noch mehr reizen.

„Ich geh’ dann mal lieber“, begann er vorsichtig. Aber der Affe war schneller, als man ihm, in seinem Alter, zugetraut hätte. „Nichts da, wer wird denn jammern in finst’ren Kammern, ich brauch ’nen Held, hab dich bestellt, wir fliegen los, vielleicht nach Kos, der Abflug ist vom Eiffelturm, egal ob Hagel oder Sturm“, reimte er irre weiter. Und mit einem Satz saß er auf dem Rücken des Bussards. Er schloss seine nutzlosen Augen, befahl dem Vogel, es ihm gleichzutun, und schnippte mit den Fingern. Als der Bussard seine Augen wieder öffnete, wurde ihm sofort schwindelig.

Der Wind pfiff ihm durch die Federn, die Frühlingsluft war noch recht kalt in dieser Höhe, und sie roch irgendwie seltsam und ungewohnt. Er blickte zögernd erst nach unten, dann geradeaus, dann wieder nach unten und wieder geradeaus. Er tippelte nervös auf der Stelle, blinzelte die Tränen weg, die der Wind ihm in die Augen getrieben hatte, und holte ganz tief Luft. Und plötzlich gewann der genetische Auftrag des Bussards die Oberhand, „fliegen“, stammelte er, „ich muss fliegen“. Mit einem lauten „Jippieh!“ stieß er sich von der Spitze des Eiffelturms ab. „Mit dem Jammern ist jetzt Schluss, wir fliegen los, ich will ’ne Nuss. Die Welt hier oben ist so schön, erkenn’ es jetzt, kann dich versteh’n“, rief er seinem Passagier zu.

Die Luft roch auch nicht mehr seltsam, sondern nach Abenteuer und Verheißung. Und auf seinem Rücken saß lächelnd der alte, blinde Affe und schrie: „Haltung annehmen und richtig fliegen.“ 



 

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