Im Konflikt mit den «Fürther Großhansen»

16.2.2008, 00:00 Uhr
Im Konflikt mit den «Fürther Großhansen»

Er war ein Frühentwickler, der kleine Wilhelm: Schon mit vier Jahren kann der Junge, hineingeboren in eine angesehene Fürther Familie, lesen. Er bewundert den Vater, einen «Spezerei- und Großsalzhändler» - und geht mit ihm gern an Orte, die andere Kinder selten aufsuchen: in Kirchen. Voller Pathos schreibt Helene Matthies in ihrer verklärenden Löhe-Biografie aus dem Jahr 1951: «Noch hallen draußen die Glocken von St. Michael durch die Gassen von Fürth in ehernem Klang, und drinnen auf der obersten Empore findet er den stärksten Widerhall im Herzen eines Bübleins, das da braunlockig und angstvoll durchschauert auf der Bank hockt, seine weiche, braune Kinderhand in die großmächtige Hand seines Vaters gelegt . . . Und dann saugt sich das glänzende Kinderauge am Altar fest . . .» - Löhes Leidenschaft für Jesus war geweckt, so die sachlich wohl wahre Begebenheit.

Die hinterlässt Spuren im Leben des Buben: Obwohl er sich selbst später als «erbärmlich schüchtern» beschreibt, spielt er als Kind gern das «Pfarrspiel» - er klettert im Hof auf einen Hackstock (die Kanzel), hängt sich eine schwarze Schürze um (den Talar) und predigt voller Ernst den anderen Kindern. «Es verdirbt ein Pfarrer an ihm, wenn du ihn nicht studieren lässt», sagt die Mutter schon damals zu Vater Löhe. Der stirbt 1816 früh, mit 52 Jahren. Mutter Barbara führt die Geschäfte weiter. Und sie drängt Wilhelm immer wieder hin zum Theologiestudium. Er erinnert sich: «Ich habe es ihr tausend Mal zu danken. Wer weiß, ob ich ein Christ geworden wäre, wenn ich nicht Pfarrer geworden wäre.»

Unter Juden aufgewachsen

Wilhelm erlebt in Fürth die Nachbarschaft der großen jüdischen Gemeinde. Ihre Feiern lernt er schätzen. Beim Laubhüttenfest schickt die Mutter ihn mit einer seiner Schwestern auf die Straße: «Geh, Mädchen, zeig dem Wilhelm die Laubhütten». Löhe später: «Ich bin kein Jude, aber unter Juden aufgewachsen und habe die Dinge alle gesehen, und ist mir von Jugend auf dafür Sinn und Auge offen gewesen, für all die liturgische Herrlichkeit, die die heutigen Juden noch haben . . . Es ist mir das Ganze oft rührend gewesen.»

Auch in seiner Schulzeit zeigt sich der junge Löhe eher als Einzelgänger. Im Geigenunterricht verbringt er «peinvolle Stunden». Und in seinem Abgangszeugnis von der Fürther Lateinschule, das er mit elf erhält, bescheinigt ihm der «königlich bayerische Subrektor Küchle», er solle «mit ausgezeichnetem Fleiße im Schmucke reiner jugendlicher Sittlichkeit das Talent . . . benutzen, welches ihm die Vorsicht verliehen hat». Und er rät: «Er suche von jener hergebrachten Ängstlichkeit, in Vorträgen und zu erteilenden Antworten je mehr und mehr sich zu entfesseln.» Weit mehr liegt ihm der Konfirmandenunterricht in «seiner» Michaelskirche 1821 und das anschließende Fest. Später schreibt er über seine erste Teilnahme an jenem Sakrament des Abendmahls, das ihm äußerst wichtig wird: «Ach, es ist doch schön, dass es solche Feiern gibt wie wir sie im Christentum haben! Gott ewig Lob, dass ich in Seiner Kirche geboren und auferzogen bin!»

Dann folgen Jahre, die ihm weniger liegen - weil er weg muss vom geliebten Fürth: nach Nürnberg, aufs Melanchthon-Gymnasium. Nahverkehr gibt es noch keinen. Also wohnt der Neu-Gymnasiast während der Woche in der Nachbarstadt und macht sich am Wochenende auf den eineinhalbstündigen Fußmarsch nach Fürth. Zwei sehr unterschiedliche Wege, wie er schreibt: «In Fürth war alles am schönsten, Nürnberg war nichts dagegen. Wahrlich, so vergnügte, fröhliche, gemeinschaftliche Gänge wie die von Nürnberg nach Fürth machte ich nie wieder, aber auch kaum traurigere als die von Fürth nach Nürnberg.» 1826 macht er sein Abitur. Nun darf er die «verhasste Stadt» Nürnberg verlassen, die ihn fünf Jahre mit ihren «quälenden Mauern» umgeben hat.

Er gilt als Kauz, als «toller Mensch», auch in Fürth. Mit seinen Freunden macht er gern Abendspaziergänge auf den Fürther Friedhof, von dem aus man «die lichterflimmernde Stadt und den sternenflimmernden Himmel» betrachten kann. Da wollen nicht alle mit - einen Ängstlichen schleppt Löhe einmal nachts «am Hals zu seines Vaters Grab». Honoratioren grüßt er schon mal nicht, wenn er meint, sie seien ungläubig. Später wehren die Notabeln der Stadt - er nennt sie «die Fürther Großhansen» - sich dagegen, dass Löhe eine Pfarrstelle in Fürth erhält.

Gewaltige Stimme

Während des Theologiestudiums in Erlangen (mit einer Zwischenstation in Berlin) verbringt er seine Wochenenden in Fürth, bei Familie und Freunden. Und als Vikar vertritt er gelegentlich Pfarrer bei Predigten - in Poppenreuth oder in Burgfarrnbach. Über den dortigen Geistlichen Beck lästert er: «Er hätte lieber ein Beck als ein Pfarrer werden sollen. Bier, Brot, Essen, Lustpartien sind sein beständiges Gespräch gewesen.»

Dabei werden die Predigten seine große Leidenschaft, die «größte Freude und größter Jammer». Er «rumort» auf der Kanzel bei Bußpredigten, «dass es schallt». «Du führst dich auf wie ein Bär», schreibt er über sich. Er wettert kräftig, wird bekannt, bei manchen beliebt - sie laufen vier Stunden, um seine Predigt zu hören -, bei anderen eckt er mit seiner schroffen, sektiererischen Art an. Etliche Sträuße ficht er aus mit «seiner» Landeskirche, aus der er vorübergehend austreten will. In Kirchenlamitz, seiner ersten Station, wird er abberufen wegen des «pietistischen Treibens des Privatvikars Löhe».

Dann wird er rehabilitiert - und landet 1834 in Nürnberg. Zuerst als Vertreter in der St.-Martha-Kirche, dann auf der zweiten Pfarrstelle von St. Egidien. Ein knappes Jahr ist er da tätig - und weitaus glücklicher als zu Schulzeiten. Er lernt seine spätere, schon 1843 verstorbene Frau Helene Andreae kennen.

Und er erlangt zusehends Berühmtheit als Prediger. «Seine gewaltige Stimme füllt am Sonntagnachmittag die Kirche, die bis auf den letzten Platz besetzt ist. Er kann stundenlang reden, ohne zu ermüden», schreibt seine Biografin Erika Geiger (ihrem Buch über Löhe sind die meisten Zitate entnommen). Da zürnt er schon mal gegen Sitten-Verderbnis: «Ihr Mütter führt eure Töchter im Hurenschmuck auf den Ball!» - Predigten, die spalten: manche sind elektrisiert, doch etliche Gegner treten auf den Plan.

Auch deshalb durchwandert er etliche meist kurze Vikars-Stationen, bis er im kaum bekannten Dorf Neuendettelsau landet. «Nicht tot möchte ich in dem Neste sein», ruft er beim ersten Besuch dort aus - und stirbt genau dort am 2. Januar 1872, als inzwischen berühmter Gründer der Diakonissenanstalt von Neuendettelsau, dessen Namen er weltweit bekannt macht. Auch in seiner Heimatstadt hinterlässt Löhes Arbeit Spuren: 1861 wird der «Verein für weibliche Diakonie» gegründet, 1864 das Waisenhaus, 1865 die «Krankenwartstation», alles Vorläufer des heutigen Diakonischen Werks Fürth mit weit über 300 Beschäftigten.

Neben der Löhe-Büste auf dem Vorplatz der Michaelskirche, 1928 von Johannes Götz geschaffen, mit seinem Diakonissenspruch erinnern in Fürth die Wilhelm-Löhe-Gedächtniskirche in Ronhof und die Wilhelm-Löhe-Straße (die Seitenstraße neben seinem Geburtshaus) an den berühmten Sohn der Stadt. Dass manche seiner Anhänger auf ihre Briefe schrieben «Nürnberg bei Neuendettelsau» - das dürfte dem leidenschaftlichen Fürther gut gefallen haben.