Immer mehr Kirchenaustritte: "Ich bin nicht beleidigt"

22.7.2020, 06:00 Uhr
Immer mehr Kirchenaustritte:

© Hans-Joachim Winckler

2019 verließen in Fürth 1305 Protestanten die Kirche, 2018 waren es 1157 – Ende 2019 gehörten 86.267 Gläubige dem evangelischen Dekanat Fürth an. 51.212 Mitglieder zählt das katholische Dekanat momentan. 2018 kehrten ihm 753 Menschen den Rücken, ein Jahr später waren es 868. Wir sprachen darüber mit dem evangelischen Dekan Jörg Sichelstiel und dem katholischen Dekan André Hermany.

Der Trend hält an: 2019 verließen wieder zahlreiche Menschen die Kirche. Schockieren Sie die aktuellen Austrittszahlen?

Sichelstiel: Ich gebe zu, dass ich schockiert war, weil die Zahlen der vergangenen Jahre sowieso schon hoch waren. Und dass ʼ19 noch mal eins draufgesetzt hat, hat mich überrascht. Wie die Zahlen ʼ20 steigen, muss man erst sehen. Auf der einen Seite kann Corona stabilisierend wirken, weil die Leute ein Bedürfnis nach Sicherheit haben, auf der anderen Seite kann das zu mehr Austritten führen.

Hermany: Mich haben die Zahlen erst mal gar nicht beeindruckt, weil ich damit gerechnet habe. Jedem, der austritt, schreiben wir einen liebevollen Brief mit der Frage nach dem Grund für den Austritt. Von zehn Briefen bekomme ich auf einen Antwort.

Und was wird Ihnen geantwortet?

Hermany: Meistens heißt es: Die Kirche hat mir nichts mehr zu sagen, sie hat für mich keine Relevanz im Leben.

Was entgegnen Sie dann?

Hermany: Man kann aus der Kirche austreten, aber nicht aus dem lieben Gott. Ich sage auch, dass wir im Dekanat Fürth einiges tun, um den Menschen neu begegnen zu können.

Was führt Ihrer Meinung nach außerdem dazu, dass Menschen vom Glauben abfallen?

Hermany: Wir sind keine freie, missionarische Kirche mehr. Die Institution stört viele. Dazu kommt das Thema Missbrauch. Da kann man noch so sehr sagen, man ist dabei, Dinge aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen . . .

. . . das Thema bleibt in den Köpfen der Menschen einfach hängen.

Hermany: Ja. Da haben wir dran zu knabbern. Ich glaube, dass die Fälle von sexuellen Missbräuchen vielen Menschen einen definitiven Grund zum Austritt geben. Viele hadern mit dem Gedanken länger. Aber bis man zum Standesamt geht und ein Papier ausfüllt, das dauert.

Immer mehr Kirchenaustritte:

© Hans-Joachim Winckler

Sichelstiel: Ein Faktor ist sicher die Enttäuschung über die Institution. Eine kirchliche Kernfrage lautet: Wie schützen wir die Schwachen? Und wenn Kirche, die die Schwachen schützen soll, die Schwachen missbraucht, dann ist das ein Komplettversagen und ein Zusammenbruch der Identität. Austritte sind die Quittung dafür. Dem müssen wir uns stellen.

Von vielen, gerade im mittleren Alter, hört man: Warum soll man Kirchensteuer an eine Institution bezahlen, die es nicht schafft, die Missbrauchsfälle vernünftig aufzuarbeiten?

Sichelstiel: Sie nehmen das so ernst, dass sie es zum Identitätsmarker der Kirche machen. Ich glaube, die Austritte in der Gruppe 31 bis 40 und auch 41 bis 50 sind bewusste Entscheidungen. Das ist nicht wegen ein paar Euro.

In welcher Altersgruppe sind die Austrittszahlen denn besonders hoch?

Sichelstiel: Bei der Gruppe zwischen 21 und 30 Jahren. Da spielen finanzielle Gründe eine Rolle, aber auch, dass in den Jahren vorher keine Bindung entstanden ist, die der finanziellen Frage standhält. Die Altersgruppe 31 bis 40 ist 2019 wesentlich stärker aus der Kirche ausgetreten als im Jahr zuvor.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Sichelstiel: Da sind wir bei der Frage, was ist mir was wert in meinem Leben. Zwischen 31 und 40 liegt Kirche rum, weil man sie nicht braucht. Dann tritt man aus, man entsorgt den Puffer, die Ressource des Dazugehörens. Diese Altersgruppe kann mit der kirchlichen Kultur wenig anfangen. Es gibt eine große Fremdheit, was die Sprache und die Musik angeht. Wir haben das Öffentlichkeitsbild, dass Kirche alt und verstaubt ist. Aber das stimmt nicht. Vieles ist möglich. Wir brauchen mehr Ausdrucksweisen, die den Menschen näher und vertrauter sind, zum Beispiel bei der Gottesdienst-Kultur.

Ist das wirklich der springende Punkt? Muss man nicht mehr anbieten?

Sichelstiel: Auf Werte sind 31- bis 40-Jährige ansprechbar. Aber wer steht für die christlichen Werte, feiert sie und gibt sie weiter? Wenn es keine Institution dafür gibt, dann werden die Werte beliebig. Ein Schlüsselfaktor ist, wie Kirche bei Familienfeiern erlebt wird. Wir arbeiten sehr daran, deutlich zu machen, wie lebendig, frisch und schön Taufe und Trauung sein können. Kirche wird oft nur als Verbotsinstanz wahrgenommen, zum Beispiel beim Thema Sterbehilfe. Die Verbotsrolle finde ich nicht angemessen, nicht hilfreich und auch nicht richtig.

Welche Rolle sollte die Kirche stattdessen übernehmen?

Sichelstiel: Neugier finde ich fundamental. Ich bin neugierig auf die Menschen. Das Partnerschaftliche ist wesentlich. Man darf nicht meinen, man wüsste etwas besser als die anderen.

Hermany: Neugierde war auch mein erster Gedanke. Da zu sein, sich nicht zu verkriechen. Wir haben doch was zu bieten. Es geht immer darum, diese alte Bibel in die Sprache von heute zu übersetzen.

Sichelstiel: Wichtig ist mir auch, dass man Austritte nicht als Beziehungsdrama inszeniert. Das ist lächerlich, das ist eine echte Falle. Wir haben oft die Beleidigtenrolle. Das kommt bei den Menschen ganz schlecht an.

Hermany: Also ich bin nicht beleidigt. Aber es ist eine gewisse Trauer da, denn jeder, der geht, kann einen traurig machen. Wenn sich jemand verweigert, ist man ohnmächtig. Aber ich weiß, warum ich meine Arbeit immer noch liebend gern tue.

Warum?

Hermany: Am meisten liebe ich die Freiheit. Und es lockt mich, viele Ideen zu haben und manchmal anders zu sein, als es dem Bischof lieb ist. Dinge zu tun, die man offiziell in der katholischen Kirche nicht tut.

Immer mehr Kirchenaustritte:

© Hans-Joachim Winckler

 

Zum Beispiel?

Hermany: Wenn bei mir ein gleichgeschlechtliches Paar anfragt, dann bekommt es den Segen Gottes von mir. Das kann mir auch niemand verbieten.

Bräuchte es nicht mehr katholische Geistliche mit dieser Einstellung, um Jüngere zurück zur Kirche zu bringen?

Hermany: Es geht nicht unbedingt nur um gleichgeschlechtliche Paare, sondern generell um Trauungen. So viele kommen zu mir und fragen, ob ich sie trauen kann, obwohl sie schon einmal verheiratet waren. Ich habe aber keine Möglichkeit dazu, und das tut mir weh. Denn beim lieben Gott gibt es keine Einbahnstraße und keine Sackgasse. Da finde ich die evangelische Praxis viel ehrlicher. Es gibt bei mir Menschen, die treten aus, weil sie bei mir nicht heiraten können, die treten dann in die evangelische Kirche ein. Wir müssen zurück zu den Wurzeln.

Zu den Wurzeln . . .?

Hermany: Was uns fehlt, ist das klare Bekenntnis zu dem, was wir Glaubensverkündigung nennen. Wir haben eine fantastische Ökumene, aber das geht nur, wenn man eine gewisse Offenheit hat. Etwas gemeinsam für die Menschen zu machen, ist der Weg, der noch viel häufiger gegangen werden sollte. Da haben wir oft gerade in unserer katholischen Kirche eine Bigotterie, die ich hasse.

Sichelstiel: Ich glaube, es geht um die Inhalte. Wir müssen auch die Menschen ernst nehmen, die nicht Mitglied der Kirche sind. Wir müssen über Lebensthemen ins Gespräch kommen. Ansonsten ist man im Boulevard unterwegs und sucht nach Gefallen. Wenn der Inhalt nicht passt, wird keine Verbundenheit gegründet.


So viele wie noch nie: 64.000 Kirchenaustritte in Bayern.


 

Verbundenheit, schön und gut. Am Ende geht es aber auch um die blanken wirtschaftlichen Zahlen, immerhin sind die Kirchen auch große Arbeitgeber. Wenn die Gläubigen wegrennen, muss man doch sehen, wie man überleben kann . . .

Sichelstiel: Ja, es gibt besorgniserregende Austrittszahlen, aber die Gläubigen rennen nicht weg. Schon die demografische Entwicklung bringt ein deutliches Schwinden der Kirchmitglieder mit sich. Wirtschaftlich macht das natürlich Sorge, denn die Prognose ist, dass bis 2060 die Zahl der Kirchenmitglieder um 44 Prozent zurückgehen wird. Wir müssen auf den Prüfstand stellen, wofür wir das Geld ausgeben. Und wir müssen unter Umständen Räume aufgeben.

Hermany: Die Kirche in Veitsbronn wird gerade umgebaut: Das Gemeindezentrum kommt ins Gotteshaus hinein. Das kostet ein paar Millionen. Man muss gucken: Was ist notwendig und was ist die Kür.

Im Erzbistum Bamberg setzt man auf Zentralisierung, man schafft größere Dekanate und Seelsorgebereiche . . .

Hermany: Das Problem ist, dass wir in der katholischen Kirche immer noch viel zu sehr priesterzentriert denken. Eine Gemeinde ist dann eine wichtige Gemeinde, wenn ein Pfarrer vor Ort ist. In der Gemeinde Christkönig ist seit dem Tod von Pfarrer Goller kein eigener Pfarrer mehr da, und es wird auch keiner mehr kommen. Ich finde das unglaublich, aber das Bistum hat niemanden.

Sichelstiel: Auch bei uns gibt es Nachfolgeprobleme. Die Kirche will effektiver werden, wirtschaftlicher, Dienstleistungen sollen zentralisiert werden. Ich halte aber nichts von Zentralisierung. Die Beziehung zu den Menschen, die man dezentral vor Ort hat, ist ein Schlüsselfaktor. Die Pfarrerin im Stadtteil ist eine Bezugsperson.

Blicken Sie hoffnungsvoll in die Zukunft – oder demotivieren Sie die Austrittszahlen?

Sichelstiel: Demotivieren kann mich das nicht. Ich bin auf der Suche nach positiven Zukunftsbildern. Zentral für die Frage, ob wir fit für die Zukunft sind, ist, ob wir Hoffnung vermitteln können. Zukunft ist eine Hoffnungsfrage, und das ist unser Kerngeschäft. Wir gehen auf eine Minderheitensituation zu und brauchen positive Bilder. Die sind dann motivierend.

Hermany: Ich lasse mir durch die Zahlen meine Energie nicht rauben. Es geht mir nicht darum, die Ausgetretenen zurückzugewinnen. Mein Fokus sind nach wie vor die Menschen an sich – ob sie nun Mitglieder der Kirche sind oder nicht.

 

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