Jeder nach seinem Tempo

13.11.2011, 13:00 Uhr
Jeder nach seinem Tempo

© Scherer

Schüler individueller fördern und Schwächere stärken: Das soll die flexible Grundschule. Am Ende der sogenannten Eingangsstufe sollen — so wie es der reguläre Lehrplan vorsieht — alle Schüler flüssig lesen und schreiben können und die Grundrechenarten im Zahlenraum bis 100 beherrschen. Allerdings führt der Weg dorthin nicht über auf die Lehrkraft fokussierten Frontalunterricht. Die Altersmischung zwingt zu offenen Unterrichtsformen, zu Teamarbeit und jahrgangsübergreifender Vermittlung von Lerninhalten.

Was das Ministerium als neuen Schultyp verkauft, ist für Roßtals Grundschulrektorin Christine Gerhardt nur ein neuer Name für Altbekanntes, das sich in Roßtal bewährt, seit sich die Schule 2001 an einem Modellversuch beteiligte und die Jahrgangsmischung danach beibehielt. Jeweils zwei Klassen sind als Kombi-Klassen gleich stark mit Erst- und Zweitklässlern besetzt. Heuer wurde die Jahrgangsmischung erstmals auf die dritte und vierte Jahrgangsstufe ausgeweitet. „Das wollte das Kollegium und auch die Eltern drängten uns“, sagt die Rektorin.

Nur einen Unterschied können Christine Gerhardt und ihre Stellvertreterin Stefanie Melchert ausmachen: In der flexiblen Grundschule ist das Sitzenbleiben abgeschafft. In der Eingangsphase für die ersten beiden Schuljahre können die Kinder bis zu drei Jahren verweilen, Überflieger können nach nur einem Jahr gleich mit den Älteren in die dritte Klasse wechseln. Das funktioniert auch in den Roßtaler Kombi-Klassen problemlos, ohne dass diejenigen, die länger brauchen, unter dem Stigma leiden müssten, eine Ehrenrunde gedreht zu haben, berichtet Christine Gerhardt. Nur im Schulakt sind sie als Wiederholer erfasst. Schülern der flexiblen Grundschule bleibt das erspart. Für Gerhardt ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Eltern gegen diese Ungleichbehandlung wehren werden. „Da sind Korrekturen nötig“, sagt sie.

Stefanie Melchert unterrichtet seit vier Jahren jahrgangsgemischte Klassen und will nicht mehr in den Regelunterricht zurück. „Ganz einfach, weil ich die Vorteile sehe: Die Kinder lernen nicht nur miteinander, sondern auch voneinander.“

Der Unterricht freilich stelle die Lehrkraft vor besondere Herausforderungen: Die Lerninhalte müssen so aufbereitet werden, dass alle Kinder, sowohl die, die sehr weit sind, als auch die, die hinterherhinken, mitkommen. Den Rahmen in Stefanie Melcherts Klasse 1/2e steckt ein Wochenplan, der in einer begrenzten Zeit selbstständig und eigenverantwortlich bearbeitet wird. Die Kinder folgen ihrem eigenen Tempo. Und sie können zwischen den Aufgabenstellungen hin und her pendeln. Für Ältere ist das eine gute Wiederholung, die Jüngeren bekommen sehr viel Stoff mit, den die Regelklasse erst in der zweiten Jahrgangsstufe anbietet.

Anne und ihr „Bär“ Jessica sind bereits sieben Wochen nach den Sommerferien ein eingespieltes Team. „Manches weiß mein Bär noch nicht, zum Beispiel schreibt er einzelne Buchstaben in den Wörtern groß.“ Aber das kennt Anne von sich selbst, als sie noch „Bär“ war. Jetzt ist sie Zweitklässlerin und damit „Tiger“. Sie hat den Vergleich zu Regelklassen, in die die Kinder wechseln, wenn Frau Melchert einmal ausfällt: „Unseren Unterricht find’ ich besser“, sagt Anne, „man kann auch mal Schwierigeres machen.“ Und wenn ihr „Bär“ Jessica etwas nicht versteht, erklärt sie es ihm. „Das macht Spaß.“ Es ist Selbstbestätigung, Motivation und Ansporn. So macht das Miteinander die Lernfortschritte und die eigenen Stärken deutlich.

Alles Punkte, die auch Gabriele Klenk veranlassen, als engagierte Fürsprecherin der Jahrgangsmischung aufzutreten. Sie ist seit drei Jahren Leiterin der Grundschule Stein, wo sie am Neuwerker Weg ebenfalls jahrgangsgemischte Klassen eingeführt hat. Zuvor unterrichtete sie in Roßtal und hat dort die Kombi-Klassen als eine der ersten im ganzen Regierungsbezirk initiiert und aufgebaut.

Heute ist sie eine von drei Experten für dieses Fach und organisiert ein mittelfrankenweites Netzwerk für Lehrer jahrgangsgemischter Klassen und damit den fachlichen Austausch, Fortbildungen oder Hospitationen. „Lehrer von jahrgangsgemischten Klassen werden in Mittelfranken nicht im Stich gelassen“, sagt sie.

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