Jenseits von Aldi

17.7.2012, 09:00 Uhr
Jenseits von Aldi

© Günter Distler

Die nach alter Manier ins Glas des Schaufensters geschliffenen Worte „Lebensmittel, Obst, Gemüse“ können Passanten leicht übersehen. Die Blicke ziehen andere Dinge auf sich: die leuchtend orangene Markise, die verführerisch roten Erdbeeren, Tomaten, Radieschen hinter der Scheibe, der Kübel bunter Blumen vor der Tür. Wer die drei Stufen nimmt, im Haus Nummer 46, betritt nicht nur ein Lebensmittelgeschäft. Er begibt sich auf eine Zeitreise. Deren Beginn markiert das schnarrende Drrrrd-Geräusch der Ladentür beim Öffnen. Es folgt ein Déjà-vu, eine liebevolle Umarmung.

Jenseits von Aldi

© privat

Vieles hier erinnert an die eigene Kindheit, an Läden, die es nurmehr im Gedächtnis gibt: die Waage mit den 1- und 2-kg-Gewichtsstücken, das Miniaturformat von Kühlregal und Frischwursttheke, das wohl sortierte Gedränge von Konserven, Keksen, Küchenkrepp. Schaumküsse heißen hier noch Mohrenköpfe. „Mohrnkopf-Semmel, Stück 50 Ct“, steht auf einem Pappschildchen. Prompt stellen sich Erinnerungen ein: an verschwitzte Finger, die sich um ein paar Groschen klammern, an existenzielle Fragen vor großen Gläsern: Zwetschgenbonbons oder Schaumerdbeeren? An eine herrliche Klebrigkeit im Mund und ein hüpfendes Herz.

Bonbongläser gibt es nicht mehr bei Maisch, aber Kunststoffboxen mit kaubaren Schlangen, Schlümpfen, Flaggen, Lipsticks. Fünf Cent das Stück. „A weng nervig“ sei es manchmal schon, gesteht Marika Maisch (41) lachend, wenn die jungen Kunden abwägen, in welche Köstlichkeiten sie einen ganzen Euro investieren sollen.

Die gelernte Metzgereifachverkäuferin und zweifache Mutter führt den Familienbetrieb seit 2010 in vierter Generation. Dokumentiert ist der einstige Delikatessen-Laden seit 1923, sagt Seniorchef Gottfried Maisch. Doch schon vorher hatte die Familie einen Kartoffelgroßhandel. Der 68-Jährige deutet auf den Fußboden: „300 Zentner Kartoffeln hatte mein Großvater im Keller liegen.“ Georg Berger fing auf ganz wenigen Quadratmetern an. Der schmale Raum, der jetzt eine Mini-Getränkehandlung beherbergt, „war früher ja noch unser Wohnzimmer“, sagt Maisch. Später habe man Wände herausgerissen, die Verkaufsfläche auf 80 Quadratmeter vergrößert.

Drrrrd. Eine Dame eilt herein, legt Eierkartons auf den Ladentisch und einen Bestellzettel. Marie Gerber, Lehrerin für Hauswirtschaftliche Erziehung an der Berufsfachschule für Kinderpflege, ist Stammkundin, „seit 40, 50 Jahren“. Heute ordert sie Eier und Kuvertüre für Kucheneis, „das einzige Eis, das krümelt statt kleckert“, wie sie munter plaudernd erklärt. Dass sie hier einkauft statt beim Discounter, hat gute Gründe: „Ich mag solche Läden, die sind persönlich. Und ich muss das Zeug nicht selber zur Schule schleifen.“

Seit 20 Jahren bieten die Maischs einen Lieferservice an. Er wird gern genutzt — von alten Leuten, die nicht mehr gut zu Fuß sind, aber auch von Berufsschulküchen, Kindergärten, Gaststätten. Den größeren Teil des Umsatzes, sagt die Chefin, erwirtschafte sie damit. Und fügt hinzu: „Aber reich wird man hier nicht.“

Wie schon ihr Vater wurde Marika Maisch gewissermaßen in den Laden hineingeboren. Dass der ihre Zukunft sein würde, obwohl er neben Supermärkten mit meterlangen Joghurt-Regalen und Tiefstpreis-Discountern wie Aldi, Lidl und Norma ein Auslaufmodell ist, „war bald klar“. Eine Herzenssache? „Ja, schon.“ Als Mädchen hat Marika Maisch hier Semmelbrösel gerieben und abgepackt, Kartoffeln in Fünf-Pfund-Beutel gesteckt, alten Frauen die Taschen heimgetragen und Leergut sortiert. Letzteres erledigt inzwischen schon mal ihr Vater, manchmal auch ihre Tochter Saskia (9); Jessica, die ältere Tochter, ist 19 und Kinderpflegerin.

Marika Maischs Arbeitstage sind lang. Oft räumt sie noch auf, putzt, macht Bestellungen fertig, ehe sie spätabends in ihre Wohnung hinaufgeht. Oft muss sie um fünf Uhr früh auf dem Großmarkt sein, danach im Laden, in der Mittagspause bei Metro oder Selgros. „Man darf halt nicht krank sein“, sagt sie. Und wenn doch? „Dann bin ich trotzdem da.“

Viele Kunden kaufen, was sie andernorts vergessen haben. Doch auch bei Maisch finden sie alles für den täglichen Bedarf, manches teurer, vieles aus regionaler Produktion, auch Exotisches. Hinter Tütchen mit Zitronenpfeffer fischt Marika Maisch ein fingernagelgroßes Döschen hervor: Safran. Überhaupt wird das Sortiment bunter. Hallerndorfer Hausbrauerbier, Club-Mate Cola und die Wurstdosen der Landmetzgerei Schlegel mit glutamatfreier Chili-Leberwurst finden immer neue Fans. Maisch sieht einen Zusammenhang mit den vielen Gebäudesanierungen ringsum. „Das Viertel verändert sich, es kommen neue Leute, die auch mal was ausprobieren.“ Vielleicht ein guter Grund für Lebensmittel Maisch, zu bleiben, wie man ist — und Kult zu werden.

7 Kommentare