Kinder leiden unter Naturentfremdung

18.8.2011, 09:00 Uhr
Kinder leiden unter Naturentfremdung

© Hans–Joachim Winckler

„Vor zehn Jahren gab es pro Schulklasse vielleicht ein Kind, das noch keine Walderfahrung gesammelt hatte“, weiß Katharina Michielin, die seit einem Jahrzehnt die Kindergruppe des Fürther BN leitet. Vor zwei Jahren war sie zum ersten Mal richtig schockiert, als sie in einer Schulklasse in der Südstadt feststellen musste, dass die Hälfte der Kinder den Wald noch nie so richtig kennengelernt hat. Die Eltern wiederum hätten einen wahren Horror vor Zecken, Fuchsbandwurm und anderen Risikofaktoren abseits der Zivilisation. Allenfalls Kräuterwanderungen seien gefragt — Ausdruck eines vorherrschenden Nützlichkeitsinteresses.

Michielin sieht Anzeichen einer fortschreitenden Naturentfremdung: „Man hört viel, was draußen alles passieren kann, und ist nicht mehr in der Lage, das richtig einzuordnen.“ Selbst Erzieherinnen seien weitgehend verunsichert. Die Waldpädagogin setzt die Naturentfremdung mit einer Krankheit gleich. Sie spricht vom „Nature Deficit Syndrome“ (Naturmangel-Erscheinung) und setzt den Hebel dort an, wo die nachhaltigste Wirkung zu erwarten ist: beim Nachwuchs. Ihre Erfahrungen sind ermutigend: Kinder, die sich regelmäßig in der Natur aufhalten, werden sicherer in der Koordination ihrer Bewegungen und selbstbewusster obendrein. Nicht die Wissensvermittlung stehe im Vordergrund ihrer Bemühungen, sondern der Freiraum zur Entfaltung.

Natürliches Ventil

Den finden die Kinder im Fürther Stadtwald reichlich. Jeden Freitag außerhalb der Schulferien trifft sich eine Gruppe von 16 bis 18 Uhr, um abseits von Spielekonsolen und Fernseher Spannendes zu erleben, kreativ zu sein und überschüssige Energie abzubauen. Zu Beginn entscheiden die Kinder mehrheitlich, wo es diesmal hingeht und was dort unternommen wird. Die Ziele heißen „Rehknochensteinbruch, Lehmweier, Bärenklautal, Rangaublick oder Scherbsgrabenquelle“. Mal werden Waldameisen unter die Lupe genommen, mal Pilze, mal Bäume. Vor zwei Jahren haben die Kinder am Ende des Rennwegs eine Hütte aus Naturmaterialien gebaut und hier Waldweihnacht gefeiert. Zu den Gästen zählten auch Oberbürgermeister Thomas Jung und Ehefrau Heike, die selbst ein Jahr in der Kindergruppe mitgearbeitet haben.

Derzeit stehen Michielin drei Frauen und zwei Männer ehrenamtlich zur Seite. Eltern bleiben bewusst außen vor. Die Kindergruppe ist „elternfreie Zone“.

Die Orientierung im Raum gehört zu den wichtigen Lernzielen der Gruppenarbeit. Selbstredend ohne Satellitentechnik und anderes Batteriespielzeug. Michielin: „Es ist wichtig, dass man sich in seinem Lebensraum auch ohne Technik auskennt und dass man sich zu helfen weiß, wenn man sich einmal verlaufen hat.“ Bei Nachtaktivitäten ohne Taschenlampe werden Dunkelheitserfahrungen gesammelt. Ein Mädchen, das zuvor sehr unsicher zu Fuß war, bewegt sich, so Michielin, seither mit intuitiver Sicherheit.

Mit der Zeit verlieren die Kinder ihre Scheu vor der Natur und entdecken immer neue Spielmöglichkeiten. Michielin berichtet von einem Kindergeburtstag im Druidenhain, an dem auch externe Freunde teilnahmen. Dabei sei es auffällig gewesen, dass die Externen zunächst herumstanden und nicht so recht wussten, was sie hier eigentlich tun sollten, während die Gruppenangehörigen sofort ideenreich den Naturraum eroberten.

Neue Gruppe startet

Um Naturerfahrungen verstärkt auch Kindern in dicht besiedelten Bereichen anbieten zu können, stellt der BN nach den Sommerferien eine Kindergruppe speziell für die Innenstadt auf die Beine. Sie trifft sich im 14-tägigen Abstand montags von 16 bis 18 Uhr am städtischen Kindergarten Otto-Seeling-Promenade 45. Die renaturierte Pegnitz, der Naturgarten des BN und das Sandbiotop Kleine Mainau bieten ganz in der Nähe ausgezeichnete Beschäftigungsmöglichkeiten. Start ist am 26. September.

Auch Kindern aus weniger wohlhabenden Familien steht die Gruppe offen. Denn der Beitrag kann über Bildungsgutscheine abgedeckt werden. Hartz-IV-Empfänger erhalten diese auf Antrag für Jugendliche bis zu 18 Jahren bei Leistungsträgern wie dem Job-Center. Der Bewilligungszeitraum erstreckt sich in der Regel über sechs Monate. Zur Unterstützung der Gruppenarbeit werden noch ehrenamtliche Betreuer gesucht. Interessenten können sich an den BN, Tel. (0911) 773940, E-Mail fuerth@bund-naturschutz.de wenden.

 

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