Mit einer Nase aus Silikon zurück ins Leben

28.8.2016, 05:58 Uhr
Michaela Biet, Bildhauerin und Epithetikerin, fertigt täuschend echte Augen, Nasen und Ohren aus Silikon.

Michaela Biet, Bildhauerin und Epithetikerin, fertigt täuschend echte Augen, Nasen und Ohren aus Silikon.

Im weißen Kittel beugt sich die 59-Jährige über ihren Arbeitsplatz in einem Steiner Zahnlabor. Vorsichtig halten die kräftigen Hände eine rosafarbene Ohrmuschel. Mit dem Aufsatz eines Zahnarztbohrers bekommt die Form den letzten Schliff. Der Patient, der dieses Silikon-Ohr — an in den Knochen verschraubten Magneten — tragen wird, hat von Geburt an nur den Ansatz eines Ohres. Ihn erlöst die Epithese, an der die Nürnberger Bildhauerin gerade arbeitet, von der Pein, ständig angegafft zu werden. „Die Chirurgie tut sich da schwer“, sagt Michaela Biet.

Sie ist durchaus gewichtigeres Material gewöhnt. Neben der Epithetik (griechisch: das Aufgesetzte) hämmert, schleift und sägt sie in ihrem Atelier in Schniegling an dicken Brocken aus Marmor, Granit und Eisen. Organische Formen, aktuell sind es pralle Wolken aus rostigem Metall, entstehen dort. Ihre Werke stehen in vielen öffentlichen Gärten und auf Plätzen; Anfang der 1980er Jahre hat sie an der Kunstakademie bei Wilhelm Uhlig Bildhauerei studiert.

Mit einer Nase aus Silikon zurück ins Leben

Feines und Massives, das könne sich durchaus befruchten, sagt Biet und holt eine Pappschachtel mit Nasen hervor. „Die sind am schwierigsten.“ Sie orientiert sich an Fotos, auf denen die Menschen noch unversehrt sind durch Tumore oder Unfälle, fertigt Silikon- oder Gips-Abdrücke, färbt Oberflächen ein oder fügt hauchdünne rote Baumwollfäden ein, die wie Äderchen aussehen. Mehrere Anproben in der Erlanger Zahnklinik sind nötig, bis das Teil perfekt sitzt. Ältere Haut mit Falten und Flecken sei einfacher nachzubilden als glatte, junge.

Von der Kunst leben? Das ist nicht leicht, und so wagte sich Biet 1994 auf Anregung eines Bildhauer-Kollegen an das neue Fachgebiet. „Ich wollte erst sehen, ob ich das psychisch verkrafte“, sagt sie. Es ging gut, in Nürnberg ist sie heute die einzige Epithetikerin, zertifiziert und von den Krankenkassen bezahlt. Menschen aus dem gesamten nordbayerischen Raum kommen zu ihr. Auch die Frau ohne Nase, die zu Hause alle Spiegel verhängt hatte, weil sie den eigenen Anblick nicht ertrug. Mit der Epithese im Gesicht nahm sie die Tücher am Ende ab.

Michaela Biet, Bildhauerin und Epithetikerin, fertigt täuschend echte Augen, Nasen und Ohren aus Silikon.

Michaela Biet, Bildhauerin und Epithetikerin, fertigt täuschend echte Augen, Nasen und Ohren aus Silikon. © Roland Fengler

An den Anblick von klaffenden Augenhöhlen und fehlenden Nasen habe sie sich gewöhnt, sagt die 59-Jährige. Gelassen blättert sie einen Hochglanzkatalog auf mit Vorher-Nachher-Fotos. Das ist nichts für schwache Nerven, aber man bekommt eine Ahnung, wie sehr entstellende Defekte das Leben verändern. Die massive psychische Belastung der Patienten gehe ihr manchmal sehr unter die Haut, sagt die Epithetikerin. Umso perfekter möchte sie arbeiten.

Ein Auge durch einen Tumor verloren

Christa Oesterlein ist eine Stammkundin. Vor 20 Jahren hat sie ein Auge durch einen Tumor verloren. Eine Weile behalf sie sich mit einer Augenklappe, dann hörte sie von Michaela Biet. Eine wahre Künstlerin sei sie, die 73-jährige Moorenbrunnerin kommt richtig ins Schwärmen. Demnächst wird ihre dritte Epithese angepasst. Länger als zwei Jahre hält das Silikon nicht, es wird hart und blass. Auch der Mensch, der es trägt, ist dann älter geworden und hat sich verändert.

Als sie das erste Mal mit ihrem neuen Kunst-Auge in der U-Bahn saß, hätten die Schüler, die ihr gegenübersaßen, gekichert und getuschelt. Oesterlein ging einfach darüber weg, wie sie sagt. „Die meisten bemerken meine Epithese überhaupt nicht“, sagt die 72-Jährige, die durchaus ironisch über ihre Situation sprechen kann. Ihr Partner ist blind, „ich habe also ein einziges Auge für Mann und Hund“.

Es ist ein Kunstwerk aus Silikon, das nicht nur das Auge selbst, sondern auch sein Umfeld bis hin zur Wange ersetzt. An den Rändern wird es dünn und transparent, bis hin zur kleinsten Hautfalte und Wimper ist es seinem gesunden Gegenüber nachgebildet. Das Auge dürfe nicht zu weit geöffnet sein, sonst wirke es starr, sagt Biet. Von vorgefertigten Wimpern hält sie wenig, „viel zu puppenhaft“. Also näht sie Haar für Haar mit der Hand an. Der Rohstoff kommt vom Perückenmacher.

Keine Kommentare