Saure Trauben

15.10.2013, 09:53 Uhr
In die Jahre gekommen? Ewald Arenz spürt dem Altern nach.

© Winckler In die Jahre gekommen? Ewald Arenz spürt dem Altern nach.

Es war an einem regnerischen Herbstabend, als Hermann einigermaßen bestürzt feststellen musste, dass die Zeit des Sturm und Drangs für ihn anscheinend überraschend plötzlich zu Ende gegangen war, ohne dass er es bemerkt hatte.

„Du kommst hier nicht rein, Opa!“, sagte der Türsteher des Clubs, den Hermann soeben hatte aufsuchen wollen, um den Abend bei lauter Musik und einigen mittelmäßigen Cocktails in angenehmer Gesellschaft ausklingen zu lassen. Hermann sah sich um, aber es gab keine Schlange, die hinter ihm stand. Er war allein.

Er sah den Türsteher an, einen jungen, kräftigen Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, der gelangweilt Kaugummi kaute. Nein. Der Mann telefonierte nicht und deshalb hatte er auch nicht zu irgendeinem Idioten, der wahrscheinlich fernmündlich einen Sitzplatz im Club hatte reservieren wollen, weil er zu alt war, um lange an der Theke herumzustehen, ebendiesen Satz gesagt.

„Äh, meinen Sie mich?“, fragte er etwas ungläubig.

„Hast du was an den Ohren, Alter?“, fragte der Türsteher mit freundlicher Nachsicht, „siehst du hier noch irgendwen? Es ist gerade erst Mitternacht. Wenn ich da jemanden wie dich reinlasse und so in einer Stunde das richtige Partyvolk kommt, denken die, hier ist Seniorentanzabend. Das kann ich mir nicht leisten. Geh weg.“

Hermann, der es bisher selbstverständlich gefunden hatte, auf allen Partys zu den letzten Gästen zu gehören, atmete tief ein und aus. Es war Freitagabend, ein langes, freies Wochenende lag vor ihm und die Nacht war noch jung. Im Gegensatz zu ihm, wie dieser grenzdebile junge Orang Utan vor ihm fand, der sich unvermittelt zwischen ihn und eine Reihe Cocktails gedrängt hatte. Er versuchte es mit Höflichkeit.

„Würden Sie mir mal eben Ihren Chef holen?“, bat er, wobei er jedes Wort überdeutlich betonte und sehr langsam sprach, weil er dachte, der Mann könnte neben seiner starken Sehbehinderung auch noch schwerhörig sein. Ganz offensichtlich war er aus Mitleid eingestellt worden und für seinen Job in keiner Weise qualifiziert.

„Klar“, grunzte der Orang Utan bereitwillig und verschwand in den Tiefen des Clubs.

Gott, ist der blöd, dachte Hermann und überlegte, jetzt einfach hineinzugehen, aber dann hätte er auf das Triumphgefühl eines vollen Sieges verzichten müssen, wenn er in Begleitung des Chefs an dem Orang Utan vorbei in den Club ging. Hermann wartete.

Ein Junge mit einem Skateboard unter dem Arm und einer Baseballcap auf den langen Locken erschien auf der Treppe und Hermann machte in einer Mischung aus Höflichkeit und Mitleid Platz, während er sich stolz daran erinnerte, dass er sich, als er noch keine achtzehn war, nie um Mitternacht aus einer Kneipe hatte schmeißen lassen. Zum Glück hatte er immer älter ausgehen.

„Was ist denn nu, Alter?“, fragte der junge Skater, der überraschend vor Hermann stehen geblieben war, „was ist das Problem?“

Hermann sah sich zum zweiten Mal an diesem Abend um, ob jemand hinter ihm stand, der gemeint sein könnte, aber da war immer noch niemand. Überhaupt schien heute außer ihm niemand ausgehen zu wollen. Die Straße war vollkommen ausgestorben und die wirklich coole Musik, die verlockend aus dem Keller drang, war das einzige Geräusch an diesem kühlen Herbstabend. Er hatte jetzt keine Lust mehr auf Spielchen. Er wollte Spaß und Cocktails und anscheinend war es nur dieser Junge, der zwischen ihm und einem wilden Hedonistenabend stand. Er konnte auch anders.

„Sollten Sie der Chef dieses Ladens sein“, sagte er kühl, „dann gibt es allerdings ein kleines Problem. Der Primat, den Sie sich als Türsteher halten, will mich nicht hereinlassen. Vielleicht sollten Sie ihn an die Leine nehmen.“

Der Junge schob seine Baseballcap etwas hoch und musterte Hermann von oben bis unten. Dann wies er gelangweilt auf ein Schild neben der Tür.

„Hast du was an den Augen, Opa? Da steht: Ab Achtzehn, nicht ab Achtzig. Geh jetzt weg. Oder willst du stressen?“

Der wild behaarte Primatenschädel erschien nun auch auf der Treppe und irgendwie hatte Hermann plötzlich das Gefühl, als wehe es kühl über seinen lichten Kopf. Er ballte die Fäuste, aber obwohl er im Vollbesitz seiner Kräfte war – sich mit einem Zoowärter und seinem Affen zu schlagen, war nicht nur unter seiner Würde, es wäre auch blöd gewesen. Er drehte sich wortlos um und ging.

Komisch – war die Stadt vor zehn Minuten noch menschenleer gewesen, so fluteten jetzt aus allen U-Bahnen, Parkhäusern und aus allen Ecken und Enden Horden von Menschen. Junge Menschen. Sie fluteten in die Straßen und strömten in die Bars und Clubs und Diskotheken. An den schwarz gekleideten Orang Utans vorbei, die kein einziges Mal ihre Hand hoben, um dem Strom Einhalt zu gebieten.

Hermann trat vor eine dunkle Schaufensterscheibe und sah sein Spiegelbild. Ja. Okay. Er sah nicht ganz so jung aus, wie er sich in Erinnerung hatte. Um genau zu sein – er sah so alt aus, wie er war. Mindestens. Wahrscheinlich sogar älter.

Es war kein gutes Gefühl, mit dem er sich umdrehte und das bunte, fröhliche Partyvolk betrachtete. Plötzlich verstand er, was Oscar Wilde gemeint hatte, als er sagte: „Die Jugend ist an die jungen Menschen vergeudet!“ Dieses Pack konnte doch all den Spaß gar nicht genießen! Als er äußerst schlecht gelaunt zu Hause ankam, versuchte er, die entgangenen Cocktails durch einen sehr guten Rotwein auszugleichen, aber es war einfach nicht dasselbe und am nächsten Tag hatte er üble Kopfschmerzen. Das war früher auch anders gewesen.

Zwei Monate später – die Kopfschmerzen waren längst vergessen – saß er im gläsernen Foyer des größten Kinos der Stadt in einer Pressekonferenz und malte in seinen Block. Irgendwie gab es nichts Neues. Ob Ice Cube oder Rihanna oder so wie jetzt eben Flo Rida und Pitbull – wenn eine neue CD vorgestellt wurde, sagten sie alle immer dasselbe. Er sah gelangweilt nach draußen. Da war die übliche Hölle los und alles prügelte sich um die Plätze an der Scheibe. Er wollte sich schon wieder abwenden, als er die Baseballkappe wiedererkannte. Und den Orang Utan neben ihm, der verzweifelt darum kämpfte, von kreischenden Mädchen nicht aus der ersten Reihe gedrängt zu werden. Auf Hermanns Gesicht breitete sich ganz langsam ein lustvolles Lächeln aus und er kramte seinen Edding aus der Tasche. Und als die Kollegen gerade alle auf die Leinwand starrten, wo das neueste Video eingespielt wurde, hielt er seinen Block in Richtung Fenster hoch.

„Du kommst hier nicht rein, Bubi!“, stand da in dicken Lettern. Hermann sah die Gesichter seiner beiden Feinde und grinste, als er den Block wieder sinken ließ und die Augen schloss, weil das Video so blöd war. Neid, dachte er befriedigt, kann auch schön sein.


 

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