Vom Friedhof gezeichnet

12.3.2013, 09:17 Uhr
Vom Friedhof gezeichnet

© Scherer

Sie hörte ihm geduldig zu, aber sie schrieb nicht mit. Sie lächelte kaum, aber sie gab ihm das Gefühl, als verstünde sie, was er ihr sagte. Ihr Gesicht schwebte vor ihm, schneeweiß war es, und zwischen ihren grellrot geschminkten Lippen ließen sich ab und zu lange und weiße Zähne blicken. Sehr lange und sehr weiße Zähne. „Ich schwöre Ihnen“, flehte er, „ich würde keinen Arzt aufsuchen, wenn es mir nicht wirklich schlecht ginge!“ „Ich würde Ihnen ja gerne glauben“, antwortete die Ärztin. „Aber ich kann an Ihnen wirklich keinerlei Symptome entdecken...“ „Wenn ich es aber sage...“

Zu Hause hatte er wieder einen dieser fürchterlichen Schübe gehabt. Geschüttelt hatte es ihn, eine Stunde lang, eisige Kälte war ihm in die Knochen geschossen, doch dann war das Wetter in seinem Körper plötzlich umgeschlagen, nach schwülwarm.

Um sich Abkühlung zu verschaffen, war er hinüber zum Friedhof spaziert, war mehr gerannt, als gegangen, und hatte sich dort kaum noch bremsen können. Er war gegen Grabsteine getorkelt, hatte Blumentöpfe umgestoßen, Äste von dunklen Sträuchern gerissen und dabei ununterbrochen schaurige Flüche ausgestoßen, in einer Sprache, die er selbst nicht kannte.

Er litt unter einem Wechselfieber, das sofort verschwand, wenn er die Praxis seiner Hausärztin aufsuchte. Nun schon zum dritten Mal in einer Woche. Sobald er im Sprechzimmer saß, betrug seine Temperatur exakt 36,5 Grad. „Fast zu niedrig“, lautete der lakonische Kommentar der Doktorin.

Er konnte nicht durchdringen zu ihr, und er wusste selbst, dass er im Augenblick vollkommen gesund war. Doch wusste er ebenso bestimmt, dass seine Temperatur zu Hause sofort wieder ansteigen würde. „Kann ich nicht hier bleiben, bis zum nächsten Schub?“ bat er flehentlich. Er blieb im Wartezimmer sitzen, bis die Leute vom Putzservice kamen.

Die Ärztin stand in der Tür, hatte den weißen Kittel mit einer schwarzen Lederjacke vertauscht, ließ am Werbe-Bändchen einer Pharmafirma einen Schlüsselbund baumeln. „Kommen Sie mit?“ fragte sie. „Wir sperren ab.“ „Das wollte ich Sie gerade fragen“, antwortete er. „Sie sind doch Hausärztin?“ „Das stimmt wohl, aber ich gehe nicht mit eingebildeten Kranken nach Hause...“ Er sah, dass es aussichtslos war. Doch immerhin erkundigte sie sich, wohin er gehen müsse, und erklärte, dass sie ihn ein Stück weit begleiten würde. Aber nur dieses Stück weit, dann würden sich ihre Wege trennen. „Ich kenne das Gefühl, dass einem nicht geglaubt wird“, begann sie, als sie nebeneinander in die sich herabsenkende Dämmerung aufbrachen. Im selben Moment stand eine verschüttete Erinnerung auf in seinem Bewusstsein, er sah sich selbst auf dem nackten Erdboden knien, schimmelige Bretter in Händen, die er mühsam auseinander rupfte, da sie mit Pech zusammengeklebt zu sein schienen.

Inzwischen bemühte sich die Ärztin, ihn zu trösten: Noch ehe sie zu studieren begonnen habe, hätte sie gelegentlich in einem Pharmalabor gejobbt. Ihr sei bald aufgefallen, dass ein Kollege ein bedenklich inniges Verhältnis zum Alkohol pflegte. „Cointreau im Spind, das erste Gebinde bereits um halb zehn Uhr vormittags, vier Bier vor vier usw. Sie verstehen, was ich meine...“

Bereits als junger Mensch vom Wunsche beseelt, anderen zu helfen, habe sie die Nummer des psychiatrischen Notdienstes gewählt. Am anderen Ende der Leitung habe jedoch eine weibliche Stimme behauptet, dass der Notdienst nichts tun könne, wenn der Kranke sich nicht selbst einweise. Solange keine Gefahr für das eigene oder das Leben einer anderen Person bestünde, dürfe jeder Mensch nach Belieben spinnen, irrlichtern, faseln, fluchen, tanzen und auch trinken, egal wie problematisch dies erscheine.

„Ich ließ nicht locker“, berichtete die Ärztin, „bis am Ende die Notdienst-Dame zugab, dass sie mir kein Wort glaubte. Vielmehr dachte sie, ich sei es, der das Alkoholproblem habe und sich hinter einem erfundenen Kollegen verstecke.“ „Das zeigt doch, wie leicht es vorkommt, dass man nicht ernst genommen wird!“ „Aber nicht in Ihrem Fall“, lachte sie und warf den Kopf in den Nacken. Um ihren sehnigen Hals baumelte ein silbernes Totenköpfchen, das ihm zuvor gar nicht aufgefallen war.

Er spürte, dass seine Temperatur wieder zu steigen begann, je mehr sie sich seiner Wohnung näherten. Erneut schlug da wie ein Blitz eine Erinnerung in sein Bewusstsein. Er sah goldene Ringe und Ketten vor sich im schwarzen Lehm, ein silbernes Messer blitzte in seiner Faust, seine Stirn glühte, ein Schauder rieselte an seinem Rückgrat entlang, als stochere jemand mit einer Klaviersaite im Nervenkanal seiner Wirbelsäule.

„Doch! Ich bin krank!“ keuchte er, während das Bild der Ärztin vor seinen Augen verschwamm. Jemand packte seine Schultern und rüttelte ihn. „Wachen Sie auf!“ schrie ihn eine hysterische Stimme an ... er schlug die Augen auf und war auf einmal ganz ruhig und klar im Kopf. Nur sein Herz klopfte so hart und schnell, dass er das Pochen überall und aus jeder Richtung hörte.

Er lag in einem Krankenbett, aus seinem Arm führte ein Schlauch zu einem Tropf. Ein Krankenpfleger stand neben ihm und sah ihn mit besorgter Miene an. „Jetzt wachen Sie doch endlich auf! Ich dachte schon, Sie sind hinüber.“ Eine ganze Woche sei er bewusstlos gelegen, erfuhr er vom Pfleger, mit lebensbedrohlich hohem Fieber. „Ich hatte schreckliche Fantasien“, atmete er da auf, „zum Glück war alles nur ein Traum...“

Der Pfleger betrachtete ihn mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck: „Sind Sie sich sicher? Wir vermuten, Sie haben sich an einem der zahlreichen modrigen Knochen infiziert, die die Sanitäter in Ihrer Wohnung fanden. Und die beiden Polizeibeamten, die draußen vor der Tür warten, würden schon seit Tagen gerne mit Ihnen über einige sehr ungewöhnliche Vorgänge auf dem alten Jüdischen Friedhof sprechen...“



 

1 Kommentar