Warten auf den Fieberschub

22.5.2013, 11:00 Uhr
Warten auf den Fieberschub

© Rödel

Die Nacht senkt sich. Verwischt die Konturen. Auch zwischen ihm und ihr. Sie stehen am Feuer. Es wärmt. Erhellt die Gesichter. Bringt Glanz in die Augen. Die Landschaft erstreckt sich bis zum Horizont. Und weiter. In weiß. Hoffentlich der letzte Schnee vorm Frühling. Es fühlt sich unwirklich an. Sie rücken näher ans Feuer. Der Fremde und sie.

Sie mag seine Augen. Sie blicken voller Güte. Strahlen Geborgenheit aus. Schokoladenbraune Augen im dunklen Gesicht. Er, der Bildhauer, kommt von weit her. Von dem Kontinent, dem man nachsagt, dass er die ersten Menschen hervorbrachte. Der Ursprung der Menschheit. Sozusagen.

Das Feuer knackt. Funken stieben in den winterkalten Nachthimmel. Es ist eine dieser Nächte, die nicht mehr wiederkommen. Auch sie werden sich nicht mehr wiedersehen. Nach diesen Stunden am Feuer. Ihr ist das klar. Sie spricht es aus. Und bricht damit etwas auf zwischen ihnen.

Mit seiner leisen, sanften Stimme öffnet er sich. Eine Stimme voller Melodie und Wärme. In einer anderen Sprache. Schon immer liebte sie diese andere fremde Sprache. Mehr als ihre eigene. Sie klingt so weich, fließend, schwingend.

Sie unterhalten sich. Finden Worte für das, was sich im Inneren auftut. Breiten es aus im Schein des Feuers. Mit all dem glitzernden Weiß im Hintergrund. Um sie herum. Sie vertrauen sich Dinge an, die sich nur Fremde gestehen. Fremde, deren Wege danach in unterschiedliche Richtungen führen. Es passt zu dieser Begegnung. Zwischen ihnen. Abseits der anderen. Der eigentlichen Veranstaltung. Zwei Seelen, die Zugang zueinander finden, in dem sie über Kunst sprechen.

„Sprich zu mir“, bittet er den rohen Stein, der vor ihm liegt, noch unbehauen, erzählt er ihr. Und dann sitzt er da und hört zu, was der Stein zu sagen hat. Bevor er ihn mit seinen Werkzeugen bearbeitet. Eine Skulptur kreiert. Die, die in dem Stein steckt. Die, die der Stein sein will. Das ist der längste Teil seiner Arbeit. Sie dauert wochenlang, manchmal monatelang. Er wartet auf das Fieber. So berührt er berührt den Stein. Auf viele Weisen. Streichelt ihn mit seinen Händen, die dunkel sind und ein bisschen vernarbt. Aber schön. Ihre Hände hingegen hell und schmal. Eine Druckstelle am Mittelfinger. Entstanden von der Berührung des Stifts mit dem Papier.

„Und“, fügt er hinzu, „es geht nur, wenn ich mich wirklich gut fühle. Mich im Fluss befinde. In der richtigen Stimmung bin.“ „So gibt es Steine“, fährt er fort, „die habe ich angefangen und zur Seite gestellt.“ Unvollendet. Und sie bleiben es. Weil der Fieberschub nicht ausreichte. „Denn“, fragt er sie, „wie will ich die Zeit zurückdrehen? Die Stimmung einfangen, in der ich war, als ich begann? Vorbei.“ „Es ist, wie es ist“, antwortet sie. Sie kennt dieses Gefühl. Sie lebt es. Wie er. Vertraute Seelen, die sich wiedererkennen.

Und so bricht der raue Kern ihrer Schale weg. Ihr Herz liegt frei. Geöffnet. Erzählt ihm, dem, der Steine zum Leben erweckt, von dem Schmerz, der dort wohnt. Und so erfährt er den Grund, warum sie der Liebe keine Chance mehr geben will. Nicht jetzt. Nicht morgen. „Vielleicht übermorgen“, raunt er und singt ein Lied in einer fremden Sprache, die sie nicht kennt. „Wenn das Fieber wieder kommt.“ Hüllt sie ein in diese urtümlichen Töne. Wiegt ihre Sinne. Tröstet sie. Damit. Nimmt ihre Hand, drückt sie kurz und flüstert in das Knacken des Feuers, „Speaking is healing“.

 

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