Ganz nah am Kind

20.1.2020, 18:34 Uhr
Ganz nah am Kind

© Foto: Michael Kasperowitsch

So steht das in einer knappen Statistik für den Bildungsausschuss des Ansbacher Bezirkstags. Es ist eine von mehreren in einem dickeren Unterlagenstapel über "aktuelle Entwicklungen 2019/2020" in Bildungseinrichtungen des Bezirks. Ein schriftlicher Sachstand zur Kenntnis. Verfasst hat sie Klaus Freitag, Chef der Wolfhard Schule in Herrieden (Kreis Ansbach), einem Sonderpädagogischen Förderzentrum. Der Rektor ist mit für die sogenannte Schule für Kranke auf dem Gelände der Bezirkskliniken Mittelfranken in Ansbach verantwortlich, um die es in der Kurzstatistik geht.

Wenn man die gesicherten Türen vor diesem alten Schulgebäude passiert hat, betritt man eine der wohl unbekanntesten Schulwelten. Die fünf Sonderschullehrerinnen für die fünf Klassen widmen sich jedem einzelnen Kind mit einer fürsorglichen Aufmerksamkeit, wie das sicher an keiner anderen Schule möglich ist. Hinzu kommen bei Bedarf einige Fachlehrer.

Höchstmaß an Flexibilität

Vor allem von diesen fünf Pädagoginnen wird ein Höchstmaß an organisatorischer und pädagogischer Flexibilität abverlangt. Die um die 60 Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen sechs und 18 Jahren kommen aus unterschiedlichen Schularten mit ihren Büchern und Heften hierher, mal für ein paar Tage, mal für einige Monate. Gleichzeitig müssen die Klassenlehrerinnen eigenes Unterrichtsmaterial bereithalten, für alle Fälle, wenn es die Situation erfordert. Mit der jeweiligen Stammschule sind Absprachen zu treffen.

Und die Zusammensetzung der Klassen kann sich von heute auf morgen ändern. "Therapie geht vor Unterricht", sagt Ursula Ehrlinger, eine der erfahrenen Lehrkräfte. Die Schülerinnen und Schüler sind junge Patienten der Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf dem weitläufigen Gelände, und die Mediziner allein entscheiden in jedem Einzelfall, wann und wie lange ein Schulbesuch dran ist. Der Unterricht muss um die medizinischen Erfordernisse herum gestaltet werden.

In der Klasse neben Ehrlingers Unterrichtsraum sitzen bei ihrer Kollegin Kerstin Schlerf heute zwei Grundschüler. Aber was heißt schon sitzen. Der Junge lässt unvermittelt sein Federmäppchen fallen, schaut mal versonnen aus dem Fenster, dann krabbelt er wieder zappelig auf dem Boden herum, versteckt sich oder ruft: "Ich hau ab." Die Pädagogin steuert ihn mit Engelsgeduld zurück auf seinen Platz.

Tief betrübtes Mädchen

Das zweite Kind, ein Mädchen, wiederum ist ein ganz andere Typ. Sie sitzt stumm und scheinbar ungerührt brütend über ihrem Arbeitsblatt Rechnen. Später erfährt man, dass es unter einer Depression leidet, unvermittelt zu weinen beginnt, tief betrübt ist, sich verweigert. Man kann sich vorstellen, wie solche Kinder an jeder Regelschule lautlos scheiternd durch das Raster des Schulbetriebs fallen, weil sich dort niemand bei ihren Beschwernissen aufhalten kann. Hier, in der fürsorglichen Betreuung der Ansbacher Abgeschiedenheit, kommen sie zu schulischen Erfolgserlebnissen, spüren, dass man sich um sie kümmert, Erfahrungen, die ihnen im Schulalltag draußen weitgehend versperrt bleiben. Das unausweichliche Scheitern wollte Monika Hell (Name geändert) ihrem Sohn ersparen. Sie hat sich für einen offenen Umgang ohne falsche Scham mit der Situation ihres heute 15-jährigen Sohnes entschlossen. Seit Ende Oktober vergangenen Jahres besucht er die Schule für Kranke in Ansbach. Sie ist ein einigermaßen stabiler Anker nach einer jahrelangen Leidensgeschichte der Familie.

Den Jungen habe, so erzählt die Mutter, bereits als Kleinkind eine anstrengende Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung geplagt: "Der hatte vor nichts Angst, rannte stur über die Straße, kletterte im Kindergarten auf die höchsten Bäume und blieb oben." Bereits in der 1. Klasse störten seine Auffälligkeiten massiv den Unterricht. Monika Hell berichtet von einer anstrengenden Odyssee zu Familientherapeuten, Kinderpsychologen, Antiaggressionstrainings. Ihr Sohn konterte Hilfsangebote öfter mit dem Halbstarkensatz: "Die haben mir gar nichts zu sagen."

In Kontakt mit Drogen

Mit Beginn der Pubertät wuchsen die Sorgen. Der Sohn kam mit Drogen in Kontakt und hing mit "Arabern" ab, so die Mutter. Manchmal fehlte dann Geld aus dem Portemonnaie von Familienmitgliedern oder Zigaretten aus der Schachtel des Vaters. Gegenüber Lehrern äußerte er sich abfällig. "Deutsche Kartoffel" nannte er einen. Der Unterricht interessierte ihn nicht die Bohne. Da trafen sie in ihrer Not eine Entscheidung: "Der kommt in die Tagesklinik."

Als die Eltern ihrem Sohn diesen unverrückbaren Entschluss verkündeten, habe der sich sonst so hart gebende Sohn bitter geweint und seine Mutter rührend angefleht: "Lass mich nicht allein!" Monika Hell ließ sich nicht mehr erweichen: "Wir brauchten Hilfe für unseren Sohn und für uns." Der Kopf ihres Sohnes sei "eine Baustelle" gewesen. Inzwischen herrscht dort etwas Ordnung. Ärzte haben dafür gesorgt und die Pädagoginnen der ungewöhnlichen Schule.

Die Mutter hofft, dass ihr Sohn bald wieder in seiner frühere Klasse zurückkehren kann, zumindest stundenweise, anfangs. Dort wird ihn ein Sozialpädagoge begleiten. Vielleicht kommt ein Erziehungsbeistand des Jugendamts hinzu. Die Eltern kennen die Konfliktspirale zu gut: "Wie kann man ruhig bleiben, wenn es mit dem Kind manchmal einfach zum Aus-der-Haut-fahren ist."

Bindungen werden brüchig

Schulrektor Klaus Freitag, der Verfasser der alarmierenden Statistik für den Bezirkstag, spricht von ganzen Ursachenkomplexen für die zunehmenden Störungen bei Kindern. Umbrüche in den Familien, vielfältigen Überforderungen, die Bindungen brüchig werden lassen, weil "Rückhaltesysteme" wie Großeltern fehlen, Kinder werden zu oft alleingelassen, die Effizienz im Familienalltag hat Vorrang. So beschreibt er das Geflecht, das Störungen des Nachwuchses verursachen kann. Freitag verweist auf Studien, nach denen in Bayern mittlerweile fast jedes vierte Schulkind psychische Auffälligkeiten zeigt. Depressionen zählen dazu, Beeinträchtigungen bei Sprache und Motorik, und Angststörungen.

Solche plagten massiv das zwölfjährige Kind von Margot Schwarz (Name geändert). "Der wollte nicht mehr in die Schule", erzählt sie, "es half nichts mehr, kein Gutzureden, kein Bestrafen." Von der Schule habe sie bei ihrer Suche nach Unterstützung "nicht direkt" Hilfe bekommen, wie sie sich zurückhaltend ausdrückt — das heißt, gar nicht. Den erhobenen Zeigefinger mit dem Hinweis auf die Schulpflicht habe man ihr gezeigt. Über Ärzte kam sie schließlich nach Ansbach.

Anfangs habe man ihr Kind mit sanfter Gewalt aus dem Auto in die Tagesklinik und die Schule für Kranke tragen müssen. So heftig setzte es sich zur Wehr. Inzwischen steigt es ohne Widerstände aus. Das änderte sich "ohne Medikamente", wie die Mutter erleichtert betont. "Er lacht wieder", sagt sie, "ich habe ein gutes Gefühl." Drei Monate werde ihr Kind in diese besondere Schule gehen, "auf jeden Fall". Danach hofft sie wieder auf einen weitgehend normalen Schulalltag für ihren Zwölfjährigen.

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