15 Jahre "Speis" in Gunzenhausen

10.2.2018, 18:02 Uhr
15 Jahre

© Uli Gruber

"Heute habe ich nur wenig Obst", erklärt die Mitarbeiterin hinter dem Tresen und zuckt bedauernd mit den Schultern. Der Kunde davor ist deutlich über 70, trägt einen abgewetzten Mantel und ist unentschlossen. Was soll er machen? "Vielleicht möchten Sie etwas Süßes?", fragt die Mitarbeiterin und schaut ihn freundlich an. "Oh nein, nichts Süßes", sagt er fast erschrocken, "ich bin Diabetiker". Die Mitarbeiterin gibt nicht auf, holt Brot, Mehl, Grieß, Milch, eine Dose Fisch und will die Wünsche des alten Mannes erahnen.

Dieser spricht ein schlechtes Deutsch, ist müde und abgekämpft. Er stammt aus Kirgisistan und lebt seit sechs Jahren in Gunzenhausen. "Wir können nicht jeden Wunsch erfüllen", erläutert Lydia Mägerlein, Chefin der Speis, "weil wir nur das anbieten können, was uns Geschäfte überlassen oder wir einkaufen." Damit ist das Grundprinzip der Speis oder Tafel erklärt: an Bedürftige das weiterzugeben, was Supermärkte oder Discounter nicht mehr verkaufen können oder dürfen, ganz nach dem Motto "verteilen statt vernichten".

Damals, vor 15 Jahren, erkannten die heute 68-jährige Lydia Mägerlein und Eva Neumann die Not jener Menschen, die nicht wissen, "wie sie über die Runden kommen". Beim damaligen Bürgermeister Gerhard Trautner rannten sie offene Türen ein, bei den beiden großen Kirchen ebenso: "Die Speis" war geboren. Wo früher hochwertige Süßigkeiten und andere Leckereien verkauft wurden, stehen heute Menschen an, die sich solche Dinge nicht leisten können.

So wie die 52-jährige Brigitte. Sie hat keine berufliche Ausbildung und nimmt immer wieder Jobs von der Arbeitsagentur an. Die gebürtige Solnhoferin hatte im Berufsgrundschuljahr schlechte Noten, "und seitdem schlängle ich mich durch", sagt sie. Seit drei Jahren ist sie nun erwerbsunfähig und muss ihren Lebensgefährten, einen gelernten Schreiner, miternähren; er hatte bereits zwei Schlaganfälle. Jetzt sind sie als Bedarfsgemeinschaft gemeldet und beziehen zusammen gute 1100 Euro. Davon gehen allein für die Miete 580 Euro weg. Es bleibt nicht mehr viel. Seit sechs Jahren geht Brigitte regelmäßig zur Speis, um sich wie heute mit Kloßteig, Milch, Mehl, Pudding und Mischbrot einzudecken. "Ich bin richtig froh, dass es die Speis gibt", sagt sie und spricht damit vielen aus dem Herzen.

Oder Nina aus Kirgisistan. Die 68-jährige Russlanddeutsche hat früher Mathematik studiert und als Lehrerin gearbeitet. Jetzt putzt sie in Arztpraxen und Privathaushalten. "Wir wurden verfolgt und mussten das Land verlassen", erzählt sie in gutem Deutsch. "Wir wollten gerne in der alten Heimat bleiben, das hier" – sie deutet mit den Fingern auf die Speis – "haben wir nicht geplant".

15 Jahre

© Reinhard Krüger

Sie muss neben der Grundsicherung mit 200 Euro Rente auskommen und davon einen elfköpfigen Familienclan mit unterstützen. Von ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit als Lehrerin in der ehemaligen Sowjetunion sieht sie keinen Cent Rente. "In Deutschland wurde mein Diplom nicht anerkannt", erklärt sie. Auf der Couch herumliegen kommt für sie nicht in Frage, "trotzdem kostet das für mich hohe Überwindung, hierherzukommen". So steht sie an, und fleißige Hände packen Brot, Milch, Salat und Gelbe Rüben ein. Alles für den obligatorischen Betrag von einem Euro.

Paritätische Leitung

"Die Speis", organisatorisch eng mit der Stadt verbunden, wird von den beiden großen Kirchen getragen. Während Lydia Mägerlein, ehemalige Vertrauensfrau des Kirchenvorstands der evangelischen Kirchengemeinde und Beisitzerin im Sozialhilfe-Ausschuss der Stadt, sich um das operative Geschäft kümmert, verantwortet der gelernte Bankkaufmann Reinhard Mikschik von der katholischen Pfarrgemeinde die Finanzen. "Wir wollten bewusst die paritätische Linie fahren", berichtet Mägerlein.

Sie fährt Woche für Woche die Supermärkte und Discounter der Stadt und Region an und ist sehr froh, wenn die Geschäfte ihr ein paar Steigen Obst, Gemüse und eine Palette Joghurt kostenlos überlassen. Auch die Bäckereien der Stadt engagieren sich vorbildlich, spendieren Semmeln, Brot und Kuchen, die sie nicht mehr verkaufen können. Ein Wermutstropfen bleibt: "Schade, dass wir von den Märkten kein Fleisch bekommen", klagt sie. Nach ihren Beobachtungen "schmeißen die tonnenweise nicht verkauftes Fleisch weg". Die örtlichen Metzgereien hingegen unterstützen die Speis. So könne nur einmal im Jahr zu Weihnachten Fleisch in größeren Mengen ausgegeben werden.

15 Jahre

© Reinhard Krüger

Was regelmäßig hinzugekauft werden muss, sind Grundnahrungsmittel. Also Eier, Kartoffeln, Milch, Mehl, Reis, Grieß, Zucker, Salz oder Tee. "Kaffee gibt es nur zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und zur Kirchweih." Da reichen die zur Verfügung stehenden Mittel bei weitem nicht aus. Vereine, politische Parteien wie kürzlich die Junge Union, aber auch Privatpersonen spenden regelmäßig. "Manche sogar mit Dauerauftrag", freut sich Mägerlein. "Dadurch können wir viel besser planen". Ab 50 Euro gibt es eine Spendenquittung, verspricht sie.

Bei der Stadt werden alle Spenden gesammelt und an die Speis weitergegeben. "Alles, was die Leute oder Firmen geben, fließt direkt unseren Kunden zu", betont die engagierte Chefin der Speis. "Sogar unseren jährlichen Ausflug der Mitarbeiter finanzieren wir selbst", beteuert sie.

Wie dieses kleine, privat initiierte Sozialwerk in Gunzenhausen funktioniert, wollen auch viele Schulklassen und Konfirmandengruppen wissen. Sie kommen unter anderem aus Meinheim, Absberg, Dittenheim oder Döckingen und bringen meist eigenhändig gesammelte Spenden mit, die an Ort und Stelle von den Mitarbeitern direkt den Notleidenden übergeben werden. Derzeit helfen 51 Frauen und Männer mit, dass die Öffnungszeiten eingehalten werden können. Zweimal in der Woche, am Dienstagvormittag und Freitagnachmittag, können Lebensmittel und Hygieneartikel in die mitgebrachten Tüten und Taschen gepackt werden.

Dafür, dass kein Missbrauch betrieben wird, sorgt Marie-Luise Rein. Die 87-jährige rüstige Frau kontrolliert die Ausweise der Speis-Kunden, die von Caritas und Diakonie ausgestellt werden. Marie-Luise Rein vergibt außerdem die Anstellnummern fürs nächste Mal. "Damit die Schlangen überschaubar bleiben", meint sie. So wissen die Kunden immer genau, zu welcher Uhrzeit sie an der Speis sein sollen.

 Ein "Speis-Auto" gibt es nicht, "wir müssen alles mit unserem Privat-Pkw holen", sagt Lydia Mägerlein, bedauert dies aber nicht sonderlich. "Zu viel Verwaltungskram, und wohin dann damit", meint sie kurz und knapp. Es ist ein Räderwerk der ganz besonderen Art.

"Ein Herz für die Speis"

"Mein Herz schlägt für die Speis", betont eine andere Mitarbeiterin (71), die von der ersten Stunde an aktiv mitarbeitet. Ihr Mann ist fit am PC und erstellt die Stundenpläne für Abholer, Sortierer und Ausgeber und hilft auf diese Weise dem gesamten Team. "Jeder macht das, was er oder sie am besten kann", bündelt Mägerlein die unterschiedlichen Profile.

Die Stadt Gunzenhausen kommt den Betroffenen auf ganz besondere Art entgegen: Sie sponsert Theater- und Konzertbesuche. Motto: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Eine "Kulturspeis" gibt es also auch. "Ich bin richtig stolz auf unsere Stadt", bekennt Lydia Mägerlein. Für einen Euro können Menschen mit dem Speis-Ausweis ins Theater.

Eine tolle Idee, nur funktioniert sie nur bedingt, stellt die Sozialexpertin fest. "Für viele Leute von uns ist es schwierig, unter Menschen zu gehen", weiß sie. Regelmäßig nehmen nur etwa fünf Kunden das Angebot an.

Und gibt es noch einen Wunsch für die Speis? "Wir würden uns über stabile Ausgabetische freuen." Bis jetzt stehen vier etwas wacklige Tische, auf denen sich Lebensmittel stapeln.

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