Gunzenhausen hält die Erinnerung wach

11.11.2016, 06:24 Uhr
Gunzenhausen hält die Erinnerung wach

© Jürgen Eisenbrand

„Wer läutet draußen an der Tür“, war der „Abend des Gedenkens“ überschrieben. Stadtarchivar Werner Mühlhäußer, der die gemeinsame Veranstaltung von Stadt, den beiden großen Gunzenhäuser Kirchengemeinden und der Hensoltshöhe maßgeblich organisierte, hatte dafür den Titel eines Gedichts des österreichischen Lyrikers Theodor Kramer (1897-1958) gewählt, das die Angst der Juden vor den Verhaftungswellen der Nazis thematisiert. Zusammen mit weiteren Texten zeitgenössischer Autoren (Georges-Arthur Goldschmidt, Gertrud Kolmar, Marceline Loridan-Ivens) bildete es den — von Georg Weigel und Peter Schnell gestalteten — literarischen Teil des Abends. Ihn ergänzten ein historischer und ein musikalischer sowie eine „geistliche Besinnung“.

Mühlhäußer rief in drei Kapiteln das jüdische Leben ab 1933 in Gunzenhausen in Erinnerung: die ersten antisemitischen Hetzkampagnen, die ersten Massenkundgebungen gegen „Alljuda“, die ersten Gesetze und (städtischen) Verordnungen, die sich gegen die Juden richteten, der Ausschluss von Juden aus dem 1. FC Gunzenhausen, der Boykott, die Ausgrenzung.

Er erzählte von der Reichspogromnacht in der Altmühlstadt und vom Ende der jüdischen Gemeinde am 17. November 1938, als die Kuppeln der Synagoge fielen und kurz darauf die letzten der in den 1920er-Jahren noch über 200 jüdischen Mitbürger die Stadt verlassen hatten — oder verhaftet waren.

Immer wieder schaffte es der Lokalhistoriker, aus Geschichtsbüchern sattsam bekannte — und häufig so fern erscheinende — Begriffe („Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, „Arierparagraph“, „Reichsbürgergesetz“) unangenehm nahe heranrücken zu lassen: Indem er schilderte, welche fatalen Auswirkungen diese Berliner Unterdrückungsmaßnahmen im glühend nationalsozialistisch gesinnten Städtchen Gunzenhausen hatten.

Dabei bediente sich Mühlhäußer zumeist einer zeitgenössischen Quelle, die ebenfalls vom Geist des Antisemitismus tief durchdrungen war: Der Altmühl-Bote der 1930er-Jahre hatte schon längst jeden Anspruch auf ausgewogene Information fahren lassen und befeuerte nach Kräften die antijüdische Stimmung in der Region.

Gunzenhausen hält die Erinnerung wach

© Jürgen Eisenbrand

Für kleine Atempausen und ein klein wenig Zeit, um das Gehörte zu verdauen, sorgten Musik-Miniaturen zeitgenössischer Komponisten, die Kirchenmusikdirektor Bernhard Krikkay und SMG-Musiklehrer Max Pfahler vierhändig auf einem Flügel spielten. Kleine, häufig dissonante Stücke ohne erkennbaren Rhythmus, aber mit viel Dramatik, die den mündlich vorgetragenen Ungeheuerlichkeiten einen passenden akustischen Rahmen gaben.

Die größte dieser Ungeheuerlichkeiten vorzutragen, hatte Peter Schnell auf sich genommen: Er las Auszüge aus Martin Luthers „unsäglichem Machwerk“ (Weigel) „Von den Juden und ihren Lügen“, in denen der Reformator 1543 die Juden unter anderem als „vom Teufel besessen“, „verworfenes, verdammtes Volk“ und voll von „giftigem Hass“ schmäht. Textpassagen von solcher Widerwärtigkeit, dass das Zuhören beinahe zur körperlichen Qual wurde.

Luthers "unerträgliche Schrift"

Luther habe mit dieser „unerträglichen Schrift“ zwar der nationalsozialistischen Geisteshaltung den Boden bereitet, kommentierte Georg Weigel, dennoch sei es „unredlich, Luther für die NS-Verbrechen verantwortlich zu machen“. Denn, so relativierte der frühere Lehrer, „die systematische Vernichtung der Juden“ habe er gerade nicht gefordert.

Nach Schnells Luther-Zitaten war es für Claus Bergmann kein leichter Gang, als er zur „geistlichen Besinnung“ ans Rednerpult schritt. Doch der evangelische Pfarrer absolvierte ihn überaus souverän und mit großer Geste: Er bedankte sich ausdrücklich dafür, dass „heute Abend dieser Luther-Text zitiert“ wurde, der ein „Anlass zum Schämen“ sei.

106 Gunzenhäuser Juden seien nach neuesten Forschungen gewaltsam ums Leben gekommen, hatte Stadtarchivar Mühlhäußer kurz zuvor berichtet. „Und die Gunzenhäuser waren nicht nur passiv dabei, sondern aktiv“, knüpfte Bergmann an diese Horrorzahl an. „Sie waren verblendet oder haben ängstlich geschwiegen — und fast alle waren Christen.“ Christen, die sonntags die Predigten von der Nächstenliebe gehört hätten; die Jesu Aufforderung, seine Feinde zu lieben, kannten; die an den Juden Jesus glaubten. „Doch es gab keinen Widerstand, nicht von den evangelischen Christen, nicht von den katholischen — und nicht von der Hensoltshöhe“, so Bergmann: „Das schmerzt bis heute.“

„Zeichen der Scham“

Als „Zeichen der Scham“, so Bergmann, wolle er deshalb jene Gedenktafeln verstanden wissen, die in den nächsten Tagen an drei Gunzenhäuser Kirchengebäuden angebracht werden. Ihr Text ist identisch und erinnert an die Verfolgung der Juden in der Stadt und an das Ende der jüdischen Gemeinde. Er schließt mit den Worten: Wir „bitten um Vergebung und Schalom“.

Mit dem „Wir“, machte Bergmann klar, seien nicht Einzelpersonen gemeint, „sondern unsere Institutionen“, von denen es damals „keinen Protest, keine Stellungnahme gegen die Herabwürdigungen, keinen Widerstand“ gegeben habe. Widerstand, der damals „denkbar gewesen wäre“; schließlich habe es Beispiele dafür gegeben. „Wir haben unsere Schwestern und Brüder aus dem jüdischen Volk nicht als solche erkannt“, bedauerte der Geistliche, „wir sind traurig über unsere Kirchen.“

Deshalb bitte er zweifach um Vergebung: bei den „Nachkommen der jüdischen Bevölkerung“, ohne zu wissen, „ob sie verzeihen können“. Und bei Gott: „Wir wurden auch schuldig gegen ihn; es war sein Volk.“

Rathauschef Fitz, der die Gedenkfeier eröffnet hatte, schloss sie auch wieder — mit einem Dank an alle Mitwirkenden, insbesondere an die drei Kirchenvertreter und ihre gemeinsame Genktafel-Initiative. Die nannte Fitz „eine bemerkenswerte Geste“ — die genau passte zu diesem bemerkenswerten Abend.

 

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