"Ich bin zum Gehirn meines Kindes geworden"

14.10.2016, 06:49 Uhr

© Babett Guthmann

Seit drei Jahren schreibt die Kulturwissenschaftlerin regelmäßig Beiträge in „Ellas Blog“, tauscht sich online mit anderen Eltern aus und bietet Angehörigen von Autisten Informationen zum Umgang mit der Krankheit. Der große Zulauf und der offensichtliche Bedarf an alltagstauglichen Ratschlägen machte der Bloggerin Mut, sich auch als Buchautorin zu versuchen. Im Café „Lebenskunst“ las sie aus ihrem in diesem Jahr erschienenen Buch mit dem langen Titel „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst.“

Ihr Buch sei kein Fachbuch, betonte die Autorin zu Beginn ihres Vortrags. Ebenso wie in ihrem Blog sei es ihr darum gegangen, den Weg, den sie mit ihrem Sohn genommen hat, nachzuzeichnen, aber auch Gastbeiträge von Menschen, die mit Autisten zusammenleben, aufzunehmen. Entstanden ist eine reiche Informationssammlung, die aber auch sehr intensiv erlebte Episoden im Zusammenleben festhält.

Die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ wird oft nicht sofort gestellt. Schnell fällt zwar auf, dass das Kind keinen Blickkontakt herstellt, oft empfindlich auf Berührungen reagiert. Bei Silke Bauernfeinds Sohn blieb die Sprachentwicklung aus, noch heute kann er sich lediglich über Gebärden kommunizieren. Zehenspitzengang, flatternde Handbewegungen, Lichtempfindlichkeit – das Spektrum der Symptome des frühkindlichen Autismus beschreibt die Referentin als vielfältig.

Autisten und Menschen mit dem zum Autismusspektrum gehörenden Asperger Syndrom können Wahrnehmungen nicht nach Relevanz filtern, jeder Umweltreiz ist gleichrangig, und so kommt es beispielsweise bei Geräuschen zu ungeheuer strapaziösen Überlagerungen. Silke Bauernfeind zitiert als Beispiel für die optische Wahrnehmung ein autistisches Mädchen, das keinen Reis essen mag und das so begründet: „Reis ist ungeordnet, ich weiß nicht, wie viele es sind!“

Für Silke Bauernfeind sind erwachsene Autisten, die gut über ihre Krankheit sprechen können, wichtige Informationsquellen, die ihr auch geholfen haben, ihren Sohn besser zu verstehen. Sie nennt solche Menschen „Brückenmenschen“.

Solch eine Autistin war bei den Bauernfeinds zu Gast und freute sich im Garten über das ungewöhnliche Echo. Die Eltern und die 21-jährige Tochter hatten davon bislang nichts bemerkt, aber der autistische Sohn lief gerne durch den Garten, machte laute Geräusche und freute sich offenbar über das nur von ihm zu hörende Echo.

Autisten brauchen Routinen, einen sehr geordneten Tagesablauf und einen hohen Betreuungsaufwand seitens der Eltern. Was macht das mit den Eltern, mit den Familien, den Geschwisterkindern, der Partnerschaft?

Eltern wurden gelassenener und sind gewachsen

Silke Bauernfeind hat in einer Online-Befragung 180 Betroffene erreicht, die ihr ausführlich Auskunft gaben. Manchmal berichten Eltern, sie seien gelassener geworden, andere meinen, ihr Selbstbewusstsein sei durch die Betreuungsaufgabe und die Auseinandersetzung mit Schule, Ärzten und Ämtern gewachsen. Andere beobachten bei sich eine gewisse Härte: „Ich bin zur Oberlöwin geworden, zum Gehirn meines Kindes“, schreibt eine Mutter.

„Wie fühlt ihr euch, wenn ihr euch mit eurem Kind in der Öffentlichkeit bewegt?“ Man werde mit Erziehungsratschlägen bombardiert, antworteten einige Eltern, andere hätten erlebt, dass die Diagnose Autismus von selbst ernannten Experten angezweifelt werde. Eine Mutter erzählt davon, dass ihr Sohn zu schreien beginnt, wenn der Busfahrer von der gewohnten Route abweicht, weil er eine Umleitung fahren muss. Sie habe gelernt, solche Situationen einfach auszuhalten.

Überhaupt ist aus den Berichten von Silke Bauernfeind herauszulesen: Man geht nicht unter, wenn man mit einem Autisten zusammenlebt. Oft wird in den Familien enger zusammengerückt, und oft engagieren sich betroffene Eltern im sozialen Bereich. An der Aufgabe wachsen – so sieht es auch die Autorin, die zu ihrem Vortrag auch einige ihrer Bilder mitgebracht hat. Ihre digitalen Kollagen sich vielfältig überlagernder Bilder sind ein Versuch, sich die Welt ihres Sohnes voll ungeordneter Reize vorzustellen, in denen sich dann doch wieder ein Muster finden lässt.

 

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