Teil 1 der Zeitungsserie

Stele der Erinnerung: "Auf jüdischen Spuren" in Treuchtlingen

11.1.2022, 06:50 Uhr
Stele der Erinnerung:

© Foto: Lidia Piechulek

Es ist "das unrühmlichste Kapitel in der Treuchtlinger Geschichte", sagt Werner Baum, ehemaliger Bürgermeister der Stadt und Mitglied des Arbeitskreises 9. November in Treuchtlingen. Die Rede ist von der Reichspogromnacht, in der vom 9. auf den 10. November 1938 das jüdische Leben in der Altmühlstadt mit einem Schlag praktisch ausgelöscht wurde. Damals verloren viele der noch 90 in Treuchtlingen wohnhaften Juden ihr Heim, Hab und Gut und ein Großteil ihr Leben.

Wenige Tage nach dem 9. November 2021, also 83 Jahre nach jener Nacht, haben sich etwa 50 Personen auf Anregung des Arbeitskreises 9. November Treuchtlingen versammelt, um gemeinsam auf den Spuren jüdischen Lebens zu wandeln. An mehreren Stationen lassen die Mitglieder des Arbeitskreises die jüdische Vergangenheit neu aufleben – und zwar mit ihren Geschichten.

Heute nur schwer zu entdecken

Sichtbar ist heute – außer Gedenktafeln und -stelen – nämlich kaum mehr etwas. Für den Laien ist es also schwierig, die Spuren des jüdischen Lebens zu sehen. All jenen, die bei dem Spaziergang nicht selbst dabei sein konnten, möchte der Treuchtlinger Kurier nun in einer mehrteiligen Serie die Chance geben, "auf jüdischen Spuren" zu wandeln.

Beleuchtet werden die Stationen des Spaziergangs, ein unvergessliches Treffen zwischen einigen Vertretern der Stadt und einstigen Treuchtlinger Juden in Jerusalem, sowie die Planungen zum Gedenktag des 9. Novembers im kommenden Jahr.

Wofür die Gedenkstele und ihre Namen stehen

Stele der Erinnerung:

© Foto: Lidia Piechulek

Den Anfang macht eine Gedenkstele, die sich in der Marktgasse, unmittelbar neben der Stadtbibliothek und dem ehemaligen Judenstadl befindet. Dort sieht man heute die "Sterne der Erinnerung". Insgesamt zehn Davidsterne sind es. Sie tragen heute 30 Namen von jüdischen Familien, die einst in Treuchtlingen gelebt haben. Sinnbildlich sollen sie für sämtliche Familien jüdischen Glaubens stehen, die einst hier ein Zuhause hatten und zum Wachstum und Wohlstand der Stadt durch ihr Wirken maßgeblich beigetragen haben.

Jeder Name steht für ein verlorenes Leben, für großes Leid und ein oder mehrere tragische Einzelschicksale. Jedem und jeder von ihnen soll und muss gedacht werden, und es ist die Verantwortung der heutigen wie auch der künftigen Generation, sich an die Schrecken der Reichspogromnacht und des Holocausts für immer zu erinnern.
Möglichkeit dazu bietet auch die Internetseite juden-in.treuchtlingen.de – Dort gibt es zu jedem einzelnen Familiennamen eine Geschichte, die mehr oder weniger detailliert erzählt, wer die Familie war und was aus ihr wurde.

Die Geschichte von Dr. Meyerson

Ein tragisches Beispiel ist etwa die Familie um Dr. Meyerson und seine Ehefrau, die selbst keine Jüdin war. Dr. Meyerson war ein hoch angesehenes Mitglied des Treuchtlinger Stadtrats als Hitlers Machtergreifung begann. Er praktizierte außerdem bis 1938 als Praktischer Arzt und Augenarzt.

Das Ehepaar lebte in der Bahnhofstraße 33, wo sich ebenfalls die Praxis befand. Im Mai 1933 wehrte sich Dr. Siegfried Meyerson öffentlich und offensichtlich erfolgreich gegen den drohenden Entzug der kassenärztlichen Zulassung, da er von der entsprechenden Verordnung nicht betroffen sei – "nichtarische" Ärzte konnten ihre Zulassung behalten, wenn sie bereits vor 1914 tätig gewesen waren.

Letztlich wurde ihm "nur" der Zutritt zum Krankenhaus verboten. In den folgenden fünf Jahren schlugen Unbekannte an seinem Anwesen des öfteren die Fenster ein. Am 9. November 1938 brachte man den Arzt zum Rathaus und misshandelte ihn dort, weil er angeblich ausländische Sender gehört hatte. Nachdem man seine Wohnung zerstört und seine umfangreiche Bibliothek ins Rathaus geschleppt hatte, nahm er aus Verzweiflung Gift und starb zwei Tage später. "Seine nichtjüdische Frau war seit diesem Tag leidend und starb vier Monate danach", heißt es.

Hier kann man sich erinnern

Wer sich mit weiteren Schicksalen auseinander setzen möchte, hat online die Gelegenheit dazu: Dort findet man die Geschichten der Familien von B wie Bacharach bis W wie Weinmann, niedergeschrieben gegen das Vergessen.

Familie Bacharach lebte in der Kanalstraße und floh laut Augenzeugenberichten in jener schrecklichen Nacht Richtung Bahnhof, ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Familie Weinmann wanderte zu großen Teilen aus, 1933 wurde der "Handelsmann" Siegfried Weinmann in Schutzhaft genommen.

Dies wurde nötig, weil gegen ihn "in bäuerlichen Kreisen der Umgebung große Erbitterung herrscht", so vermeldete es der Treuchtlinger Kurier in jenem Jahr.

Eine Zeitzeugin berichtete, dass sie in der Reichspogromnacht ihre Nachbarin Martha Weinmann und ihren Sohn Siegbert durch die Uhlengasse rennen sah. "Sie versuchten, den wüsten Beschimpfungen des Pöbels zu entkommen", heißt es.

Auf dem Friedhof in Treuchtlingen tragen noch heute an die 30 Gräber den Namen Weinmann, darunter zwei Kindergräber. Das älteste Grab stammt etwa aus dem Jahr 1820.

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