Heimatmuseum Weisendorf: "Herzzerreißende Szenen"

5.2.2021, 05:03 Uhr
Heimatmuseum Weisendorf:

© Foto: Heimatmuseum

Der Holzwagen, der auf dem Bild zu sehen ist, hat eine ganz besondere Geschichte. Diese kann der Weisendorfer Josef Wirtz erzählen, es ist die Geschichte der Flucht seiner Familie im Jahr 1944. Josef Wirtz (geboren 1950) hat sie selbst nicht erleben müssen, doch in der Familie ist noch lange darüber gesprochen worden.

Zu dem Wagen, mit dem 1944 die Familie Wirtz aus Ungarn flüchtete, erzählt Josef Wirtz aus Weisendorf diese Geschichte:

"Ein Schild an der Seitenwand weist heute auf den früheren Besitzer des Wagens hin: meinen Großvater mütterlicherseits. Aufgrund der ernsten Lage (die sowjetischen Truppen hatten Ende August 1944 die ungarische Grenze erreicht) sagten die Offiziere, dass wir unsere wichtigsten Sachen verpacken und täglich zur Flucht bereit sein sollten. Die Bauern sollten jedoch die Felder bestellen, solange noch Zeit dazu ist; denn man hoffte auf jedem Fall im Frühjahr wieder zurück zu sein.

Wer darf mit?

Die nächste Frage war, was sollen wir vom Bauernhof mitnehmen? Im Haushalt meiner Großmutter lebten: Die Urgroßmutter, die Großmutter, meine Mutter und ihre Schwester – mein Großvater war zum Arbeitsdienst verpflichtet worden. Als erstes musste der Wagen für die Flucht vorbereitet werden.

Es gab Evakuierungspläne

Es gab – anders als später bei der überstürzten Flucht der Bevölkerung aus Ostpreußen und Schlesien – Evakuierungspläne für die ungarndeutsche Bevölkerung. Jedes Pferdefuhrwerk sollte nicht nur die Familie des Besitzers, sondern auch eine weitere Familie mitnehmen, deren Familienoberhaupt an der Front stand.

Jede Familie sollte außerdem zwei Sack Mehl, geräuchertes Fleisch und mindestens 50 Liter Fett einpacken, abgesehen von Kleidung, Wäsche, Geschirr und Bettzeug. Für die Evakuierung waren feste Wege bestimmt. Entlang dieser Straßen wurden bis an die österreichische Grenze Verpflegungsstellen eingerichtet.

Ziel unbekannt

Für Personen, die nicht mit Fuhrwerken mitfahren konnten oder wollten, standen Personen- und Güterzüge bereit, soweit die Theorie. Mitte November 1944 teilte dann die Ortsgruppenleitung mit, dass drei Transportzüge bzw. Kolonnen ins Reich zur Verfügung stehen. Wo das Endziel ist, wusste keiner.

Meine Urgroßmutter, Mutter und Tante schlossen sich dem zweiten Transport an, der Anfang Dezember in Freising bei München endete. Sie hatten Glück im Unglück, denn Transport eins wurde nach Niederschlesien geleitet und Transport drei wurde in das Protektorat Böhmen und Mähren geführt, wo die Heimatlosen ebenso wie die Schlesier ein halbes Jahr später wieder zu Vertriebenen wurden.

Auf der Route der Ahnen

Nachdem der Befehl zum Aufbruch vom Ortsgruppenleiter kam, spannte meine Großmutter zwei Pferde an den inzwischen voll bepackten Wagen. Als Begleiterin wurde eine gehbehinderte Nachbarin zugewiesen. Es müssen herzzerreißende Szenen gewesen sein, als sich die Wagenkolonne gen Westen in Bewegung setzte, auf der fast gleichen Strecke, die zweihundert Jahre zuvor die Vorfahren als Siedler genommen hatten. Unterwegs kam zum Unglück noch hinzu, dass ein Zugpferd meiner Großmutter an einer Pferdeseuche verendete und der Wagen einspännig weitergelenkt werden musste. Wiederholte Tieffliegerangriffe und Bom-bardierungen zwangen wiederholt zum Absitzen vom Wagen, und Schutz im Straßengraben zu suchen. Kurz vor Weihnachten 1945 endete die Kolonne in Vilshofen in Niederbayern.

Zunächst nach Vilshofen

Bürgermeister und örtliche Kommissionen hatten zu entscheiden, wer Vertriebene aufnehmen musste. So kamen meine Verwandten mütterlicherseits nach Windorf, ein Dorf vier Kilometer stromabwärts von Vilshofen direkt an der Donau gelegen. Arbeitskräfte waren in der Landwirtschaft zu dieser Zeit rar, es herrschte noch Krieg und die Männer waren beim Militär. Meine Großmutter wurde bei einem Bauern in Ried für Feld- und Hausarbeiten eingesetzt. Das übrig gebliebene Pferd ist bei einem anderen Bauernhof im Einsatz gewesen. Dort bekam es auch Kost und Logie. Der Wagen wurde in einem Schuppen deponiert und zwischendurch auch gewartet, denn man wollte nach Kriegsende wieder unbedingt zurück nach Ungarn. Ein weiterer Schicksalsschlag war die Nachricht, dass mein Großvater 1945 in der Lagerhaft verstorben ist.

1954 nach Weisendorf

Die Suche nach Arbeit war der Grund meiner Eltern (sie hatten 1948 geheiratet) und Großeltern, dass sie 1954 nach Weisendorf zogen, im Gepäck auch der Wagen – zerlegt und eingemottet stand er dann in der Scheune der Familie Gegner dreiundzwanzig Jahre lang. 1969 zogen wir wieder um, diesmal nur innerhalb von Weisendorf, auch der Wagen war wieder dabei, jetzt wurde er in der Garage untergestellt. 1977 kamen wir auf die Idee, es war gerade die Zeit der Weisendorfer Kirchweih Ende August, den Wagen nochmals zusammen zu bauen. Gemacht getan, und so stand er dann in unserem Vorgarten Finkenweg 5 einige Tage. Die örtliche Presse berichtete davon und ein Interview mit meiner Großmutter, in ungarn-deutscher Tracht, wurde geführt. Dr. Nadrau gefiel der Bericht und er begutachtete das Ausstellungsstück persönlich.

Eines der ersten Exponate

Als eines der ersten Exponate kam er in die Sägehalle von Baron Frankenstein und wanderte bei der ständigen Vergrößerung des Museums mit. Den endgültigen Platz fand der Wagen 2010 im neuen Heimatmuseum am Reuther Weg. In einer kleinen Gruppe, die das Thema "Flucht und Vertreibung" hat. So schließt sich nun der Kreis dieses Objekts, gebaut 1940 in Ungarn, als Zeichen eines kleinen materiellen Wohlstands, benutzt am Anfang für Besorgungsfahrten in die Kreisstadt, vier Jahre später die Flucht aus einem Land, das zweihundert Jahre lang die Heimat meiner Vorfahren war. Entbehrungen in der neuen Heimat und Hoff-nung auf eine baldige Rückkehr in den ersten Nachkriegsjahren ließen uns den Wagen vor der Zerstörung retten.

So ist dieser Gegenstand für mich und meiner Familie ein Erinne-rungsstück an eine düstere Vergangenheit, die sich, so hoffen wir, niemals wieder ereignen soll."

www.heimat-museum-weisendorf.de

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