Opfer des Super-Gau

26.8.2014, 09:00 Uhr
Opfer des Super-Gau

Oksana Soldatova, geboren im November 1985 in Prypjat, und ihr Bruder Wowa (Wladimir) Soldatov, geboren im Juli 1987 in Kiew, die 52-jährige Mutter Tatjana Soldatova und Oksanas Sohn Wladik sind wieder einmal zu Besuch bei ihrer deutschen Gastmutter und Freundin Elfi Königsheim in Zeckern – Oksana und Wowa inzwischen zum 20. Mal.

Elfi Königsheim hatte im August 1994 die beiden Tschernobyl-Kinder Oksana (acht Jahre) und Wowa (sechs Jahre) für vier Wochen zu Gast – und das ist bis heute so geblieben. Damit ist sie die ausdauerndste Gastmutter aus dieser Zeit. „Ich weiß noch, als die beiden damals aus dem Bus ausgestiegen sind, legte Oksana schützend den Arm um ihren kleinen Bruder und beide haben bitterlich geweint. Da musste ich einfach alle zwei nehmen!“, erinnert sich die Gastmutter.

Nach dem Frühling 1991, als die UdSSR am Zerfallen war, wurde es möglich, Tschernobylopfer einzuladen. Zu dieser Zeit bildete sich der „Verein zur Hilfe für die Tschernobylopfer“, der für betroffene Kinder im westlichen Landkreis Erlangen-Höchstadt Gastfamilien suchte und alles organisierte. Ab da war die Familie Königsheim dabei.

Kontakt bleibt bestehen

Auch Sibylle Menzel, Vorsitzende des Freundeskreises Krasnogorsk aus Höchstadt, war damals Mitglied und Gastmutter und sie ist auch heute bei Elfi Königsheim, um die Unterhaltung – Wowa und Oksana sprechen nur ein bisschen Deutsch — etwas zu erleichtern. „Ich wünschte mir einfach für meinen Sohn damals gleichaltrige Spielgefährten“, erinnert sich Mutter Elfi. Und es hatte geklappt.

Nach zehn Jahren löste sich jedoch der Verein auf. Der Kontakt zwischen den Soldatovs und der Familie Königsheim besteht aber bis heute und mittlerweile kommen die Mutter und Oksanas kleiner Sohn ebenfalls mit. „Ich hab genug Platz, seit mein Mann nicht mehr lebt. Und es ist schön, so liebe Freunde zu Besuch zu haben“, sagt Elfi Königsheim strahlend. Mit Schaudern erinnert sich Oksanas Mutter an den Reaktorunfall: „Oksana war ein Baby von einem halben Jahr und wir gingen am 26. April noch spazieren. Es war ja schönes Wetter. Wir wohnten etwas außerhalb von Prypjat. Dann wurden auf einmal alle Bewohner von Prypjat aufgefordert, die Stadt zu verlassen – für drei Tage. Danach könnten wir zurückkommen....“

Erst am 4. Mai 1986 wurden sie dann endgültig evakuiert. „In Kiew war gerade eine Neubausiedlung fertig geworden und wir bekamen dort eine Wohnung“, erzählt Mutter Tatjana. Natürlich seien die Kiewer sauer gewesen, denn es gab bereits viele Anwärter für diese Wohnungen. Auch die Angst, dass die Leute aus Prypjat „strahlen“, sei groß gewesen.

Unbeliebte Neubürger

Daher waren die Neubürger nicht besonders beliebt. Heute stünden die meisten dieser Wohnungen wieder leer, denn die Erstbesitzer seien an Krebs gestorben. Tatjanas Mann hat vor und nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl gearbeitet und er ist bereits 1991 – im Alter von 28 Jahren – gestorben. „Am 7. August war sein Todestag“, berichtet Oksana.

Zwei Jahre nach dem GAU war Tatjana mit Wowa schwanger. Den schwangeren Frauen wurde immer noch die Abtreibung empfohlen, wenn nicht gar vorgeschrieben, denn es kamen viele missgebildete Kinder zur Welt, auch Totgeburten waren normal. „Aber meine Schwangerschaft war zu weit fortgeschritten, deshalb durfte ich mein Kind behalten“, erklärt Mutter Tatjana.

Alle ehemaligen Einwohner von Prypjat kämpfen seit dem Reaktorunfall mit gesundheitlichen Schäden. Neben Krebs gibt es noch andere Krankheiten. Tatjana leidet wie viele ihrer Bekannten unter Arthrose. Ihre Zähne, aber auch die der Kinder und auch des Enkelsohnes, sind ganz schlecht. Oksana hat schon lange Zahnimplantate. Wowa litt als Kind unter frühkindlichen Epilepsieanfällen. Die Milchzähne des kleinen Wladik waren von Anfang an schwarz. Ohrenentzündungen sind die Regel.

Dass im Westen die Atomkraftwerke langsam still gelegt werden sollen, wissen die Gäste nicht. „Das wäre schon gut“, findet Wowa. Auch in der Ukraine gebe es bereits Solaranlagen, aber die Panels überlebten meist nicht lange. „Alles wird geklaut, auch Kanaldeckel. Die werden zu Geld gemacht und dann fallen die Kinder in die Löcher rein und sind schwer verletzt oder sterben sogar“, erzählt Mutter Tatjana.

Auch Fahrräder müsse man immer mit in die Wohnung nehmen, sonst seien sie schnell weg. Ein Mal im Jahr, am 9. Mai, dürfen die Familien auf den Friedhof nach Prypjat, um die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen zu besuchen. Heute ist das Gebiet rund um Tschernobyl eine reine Geisterlandschaft. Für viele vor Ort unbegreiflich boomt seit längerem der Abenteuertourismus in das verstrahlte Gebiet. Findige Reiseunternehmer bieten von Kiew aus Touren durch das verlassene Prypjat zum Reaktorgelände an. Schaulustige, die dorthin gehen, suchen den besonderen Kick: Das Ticken des Geigerzählers, das Umfeld der Katastrophe. 2013 zählte man bereits 17 000 Besucher.

Im Moment steht aber für die ukrainischen Gäste ein weitaus schlimmeres Problem im Vordergrund. „Seit 1. November 2013 haben wir wieder Krieg“, erzählt Wowa ernst. Alles laufe zu Hause in Kiew sehr schlecht. Auf dem Weg zur Arbeit quer durch die Stadt wisse man nie, wo gerade Bombenalarm sei. „Gestern wurde unser Stadtteil vermint, Verkehrswege und Plätze werden immer wieder geschlossen“, fährt er fort. Sein Schwager sei schon vor vier Jahren gestorben, trotzdem kam jetzt sein Einberufungsbefehl.

Nun fürchtet Wowa, dass auch er bald dran sei. Ein Wehrdienstverweigerer bekäme fünf Jahre Gefängnis – oder aber er könne sich teuer frei kaufen. Ganz neu sei es, dass auch die Rentner eingezogen würden. Die Soldaten seien schlecht ernährt, sie lebten von selbst geschossenen wilden Kaninchen oder gefangenen Schlangen, die sie braten, erzählt der 27-Jährige. Junge Leute aus dem Wohnviertel der Soldatovs hätten sich zu einer Bürgermiliz zusammen geschlossen, um die eigenen Wohnhäuser zu schützen. Für einen Fremden sei dies alles unvorstellbar.

Wowa erklärt, dass ursprünglich die Demonstrationen auf dem Maidan eine gute Sache gewesen seien. Sie wurden von Menschen getragen, die die Öffnung nach dem Westen wollten. Jetzt lebten auf dem Platz nur noch „Obdachlose, Alkoholiker und Strauchdiebe“. Die wolle Wladimir Klitschko nun entfernen lassen.

„Wir wissen nicht, wie wir weiter leben werden und können“, ist Mutter Tatjana verzweifelt. „Ich hab schon so viel mitgemacht, so viele Menschen beerdigt und mich schreckt eigentlich nichts mehr. Ich mache mir im Moment nur noch große Sorgen um meine Kinder“, sagt sie.

Das Leben sei für alle Ukrainer im Osten schwerer geworden. Viele von ihren Verwandten leben in Russland, sie selbst sprechen hauptsächlich Russisch. Aber ihre Landsleute im Westen seien natürlich gegen Russland und Putin. „Wenn wir nächste Woche mit dem Bus wieder heimfahren, haben wir Sorgen, dass wir von unseren eigenen Leuten angegriffen werden und für Russen gehalten werden. Wir reden nämlich Russisch und nicht Ukrainisch miteinander“, sorgt sich Wowa. Die Kinder sprechen zwar in der Schule Ukrainisch; seit 1991 ist dies die Schulsprache. Aber zu Hause unterhalte man sich im Osten eben Russisch.

Wowa ist von Beruf selbständiger Autolackierer, aber im Moment ohne Kunden. Mutter Tatjana ist seit sieben Jahren Rentnerin. „Tschernobylopfer dürfen mit 45 Jahren in Rente“, erklärt sie. Oksana ist von Beruf Krankenschwester, bis vor kurzem arbeitete sie in Kiew in einem Krankenhaus in der Notaufnahme. Nun ist sie in der Gerichtsmedizin tätig. Sie muss beim Begutachten der Leichen dabei sein, Bluttests machen und ist für die Identifizierung der Opfer auf dem Maidan und vor dem Gewerkschaftshaus zuständig. „Eigentlich sollte ich mit nach Holland wegen der Identifizierung der Opfer des Flugzeugabsturzes, aber meine Vorgesetzten haben es nicht erlaubt“, verrät die junge Krankenschwester.

Warum machen sich die Soldatovs eigentlich wieder auf den Heimweg — in solch eine ungewisse Zukunft? „Wir haben unsere Angehörigen in Kiew, unsere Freunde, unseren Hund“, sagt Tatjana ernsthaft. „Wir müssen wieder heim“, bestätigen auch Oksana und Wowa, deren Partner und Wowas kleiner Sohn zu Hause warten.

„Ich lade meine Freunde so lange ein, wie ich es gesundheitlich noch kann und überlasse es ihnen, ob sie kommen“, erklärt Elfi Königsheim. Sogar die Reise bezahlt sie ihnen. „Wenn es nach uns ginge, müsstest du mindestens 100 bis 150 Jahre alt werden“, zeigt sich Tatjana Soldatova dankbar zu ihrer Gastgeberin.

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