Röttenbacher als Retter in höchster Not

6.1.2017, 06:00 Uhr
Röttenbacher als Retter in höchster Not

© Judith Buethe/Sea-Watch

René Stein war keiner, der mit offenen Armen auf Flüchtlinge zuging. Er hat nicht in Unterkünften geholfen, als immer mehr Menschen nach Deutschland kamen, er hat keine Deutschkurse organisiert und nicht mit Asylbewerbern gekocht.

Inzwischen hat René Stein geholfen, Tausende Mal, im Meer vor der libyschen Küste.

Röttenbacher als Retter in höchster Not

© Judith Buethe/Sea-Watch

Denn der Röttenbacher weiß, was es bedeutet, in Seenot zu sein. Er hat viele Tage seines Lebens auf dem Wasser verbracht, war im Mittelmeer unterwegs, auch heute, als Rentner, segelt er noch gerne auf der Ostsee. Es ist für viele ein Klischee: Ein promovierter Ingenieur, der viele Jahre für eine Siemens-Tochter gearbeitet hat, geht mit 60 Jahren in Altersteilzeit und schippert tagelang mit einem Segelboot umher. „Mir war die Lebensqualität wichtiger“, sagt René Stein.

Als im Herbst 2015 immer mehr Menschen aus aller Welt nach Deutschland fliehen, ist das Schicksal dieser Leute plötzlich auch für den 64-Jährigen ganz nah. Auf einer Bootsmesse in Hamburg hatte die Hilfsorganisation Sea-Watch ein Schlauchboot ausgestellt – es war ein Original, mit dem Flüchtlinge im Meer aufgegriffen wurden. „Ich war entsetzt von der schlechten Qualität“, sagt René Stein.

Es war der Moment, an dem er beschloss, zu helfen. Ganz unmittelbar, auf hoher See, diesem anonymen Massengrab, das schon so viele Menschen in sich begraben hat.

Die „Sea-Watch 2“ kreuzt seit vergangenem Jahr zwischen der libyschen Küste und Malta, um Flüchtlingsboote, die sich dort in Seenot befinden, zu versorgen. „Ich habe einfach mal gefragt, ob sie dort jemanden mit nautischen Erfahrungen brauchen können“, erzählt Stein.

Ein Jahr später sitzt er im Flugzeug nach Malta, 200 Euro hat er dafür bezahlt, helfen zu dürfen. Am 1. Oktober verlässt das Schiff europäischen Boden, zwei Tage vergehen, bis das Schiff in die Nähe der libyschen Küste kommt – aber niemals näher als zwölf Seemeilen, es ist die Grenze, hinter der das staatliche Hoheitsgewässer beginnt. Zwei Monate zuvor hatte die libysche Küstenwache ein Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“ beschossen.

Und doch sagt René Stein heute: „Ich habe es nie für besonders gefährlich gehalten.“

Am dritten Tag der Mission wird es ernst. Stein legt die Hand an den Kopf, er kramt in den Erinnerungen, die sich in seinen Kopf eingebrannt haben. Um 3 Uhr nachts meldet das Maritime Rescue Coordination Centre in Rom, das die Seenotrettung koordiniert, ein Flüchtlingsboot.

In der Dunkelheit nimmt René Stein seinen Platz auf der Schiffsbrücke ein, als erster nautischer Offizier ist er so etwas wie die Vertretung des Kapitäns. Wenig später finden sie ein Holzboot, das mit 450 Personen vollkommen überladen ist. „Und dann haben wir das gemacht, was wir vorher geübt haben“, sagt Stein. Beiboote ablassen, Rettungswesten verteilen, für Ruhe sorgen, Kranke, Verletzte, Kinder und Frauen an Bord nehmen, jeder hat seine Aufgabe.

Die meisten Menschen werden von anderen Hilfsschiffen, die im Meer unterwegs sind, aufgenommen und zur maltesischen Küste gebracht. Nur wenn sie trotz Rettungswesten nicht mehr sicher auf ihren Booten bleiben können, nimmt die Sea-Watch sie für einige Zeit mit. „Einmal haben wir mit Ach und Krach 300 Leute untergebracht“, erinnert sich Stein.

In den Tagen danach ist die Besatzung fast pausenlos im Einsatz. Los geht es oft nachts, gegen 3 oder 4 Uhr, zur Ruhe kommen die Helfer oft erst gegen 23 Uhr. „Ich hatte schon nach wenigen Tagen das Gefühl, dass ich es körperlich nicht mehr schaffe“, erzählt der Röttenbacher. Doch es wurde ruhiger, René Stein konnte essen, trinken, sich stärken für das, was noch kommen sollte.

Auf dem Boden vieler Flüchtlingsboote sammelt sich während der Fahrt eine Mischung aus Meerwasser, Urin, Erbrochenem – und Benzin, das aus oft undichten Tanks ausläuft. Die Menschen sitzen dicht gedrängt in einer vier, fünf Zentimeter hohen Lache und haben keine Chance, zu entkommen, viele tragen durch die aggressive Mischung Verbrennungen davon.

Einige Tage später wird es für die Helfer erstmals gefährlich. Nahe des libyschen Hoheitsgewässers finden sie ein total überfülltes Schlauchboot, doch plötzlich rast die Küstenwache mit Schnellbooten heran. Sie schreien „get out“, kommt raus, in Richtung der Besatzung. Dann drängen sie die Beiboote der Sea-Watch ab. Ein Mann springt zu den Flüchtlingen und schlägt mit einem Stock willkürlich auf die Menschen ein. 124 Flüchtlinge überleben, etwa 25 ertrinken, weil sie in Panik ins Wasser fallen, ein Großteil der Menschen kann schlicht nicht schwimmen. Dem Tod so nahe zu sein, ist schwer, „man muss versuchen, Distanz zu wahren“, sagt Stein.

Am gleichen Tag findet die Sea-Watch acht weitere Boote, es ist Rettung beinahe im Stundentakt. René Stein ist 70 Stunden im Einsatz, er schläft nur zwei Mal eineinhalb Stunden. „Ich war total fertig, das war eine Grenzerfahrung“, sagt er. Es ist der Moment, an dem es für die Besatzung wirklich gefährlich wird. „Man kann sich nicht mehr konzentrieren, der Körper kann nicht mehr“. Sie verordnen sich selbst einen Tag Pause.

Nach 14 Tagen ist Mission eins beendet. Das Schiff legt an, drei Tage lang. René Stein kann acht Stunden durchschlafen, das Erlebte verarbeiten, darüber sprechen – die Crew muss aber auch das Schiff für die nächste Mission vorbereiten. René Stein tankt in diesen Momenten Kraft, denn er wird nochmal 14 Tage unterwegs sein.

Insgesamt hat er in einem Monat etwa 5000 Menschen gerettet, an das letzte Boot, das sie finden, erinnert er sich gerne zurück. Alle Flüchtlinge überleben, sie jubeln, an Bord der Sea-Watch singen sie. „Das entschädigt für die ganzen Strapazen“, sagt Stein.

2017 will er wieder raus, aufs Meer, Menschen helfen und seinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Warum? René Stein antwortet mit einer Gegenfrage: „Warum hilft man?“ Er wartet einen Moment – und sagt: „Aus Menschlichkeit.“

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