Mobbing kann jeden Schüler jederzeit treffen

17.11.2020, 10:41 Uhr
Etwa zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler haben Mobbing-Erfahrungen. Hier ist eine Gruppe Jugendlicher gemein zu einem Mitschüler.   

© Michael Zapf/Techniker Krankenkasse Etwa zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler haben Mobbing-Erfahrungen. Hier ist eine Gruppe Jugendlicher gemein zu einem Mitschüler.  

"Öslan, du dicke fette Sau, du stinkst!“ „Wir schlachten dich, du fettes Schwein.“ Verbale Schläge wie diese gehörten für die elfjährige Öslan (Name geändert) zum Schulalltag. Eine Gruppe Jungs aus ihrer Klasse hatten sich gegen das türkischstämmige Mädchen verschworen und sorgte dafür, dass auch der Rest der Klasse sich positionierte - gegen Öslan.

Keine Freundinnen

Gelästert wurde ohne Unterlass. Tagsüber in der Schule, am Nachmittag in den sozialen Netzwerken. Öslan war für die Schülerinnen und Schüler das geborene Opfer. Sie roch ungewaschen, hatte ein paar Kilos zu viel und trug abgetragene Kleidung. Das Mädchen hatte keine Freundinnen auf ihrer Mittelschule im Landkreis Erlangen-Höchstadt. Keiner sprach mit ihr, sie war stets allein. Abgeschottet. Dieser Zustand war Öslan vertraut, das kannte sie schon aus der Grundschule. Auch dort wurde sie über Jahre hinweg ausgeschlossen, beschimpft und ausgelacht. Unterstützung seitens der Lehrer? Fehlanzeige. Auch an einer Neumarkter Schule kam ein dramatischer Mobbing-Fall ans Licht.

Ständige Panik

Auch die Mutter und die Geschwister, mit den Öslan zusammenlebte, boten keinen Halt oder Trost. Öslan reagierte mit Rückzug. In der Mittelschule versuchte sie, sich unsichtbar zu machen. Verbale Attacken quittierte sie mit gesenktem Kopf und Schweigen. In den Pausen verkroch sie sich in einer Ecke, am Unterricht beteiligte sie sich nicht, schwieg selbst, wenn sie aufgerufen wurde. Dementsprechend schlecht waren ihre Noten. Doch das war Öslan völlig egal, sie lebte in ständiger Panik vor ihren Peinigern. Sie schlief schlecht, ritzte sich, hatte Panikattacken und dachte sehr oft daran, sich umzubringen. Scham und Schuldgefühle quälten sie, weil sie so eine peinliche Figur abgab. Dann eskalierte die Situation in der Schule.

Gesicht ins die Toilette

Mitschüler zerrten Öslan in einer Freistunde auf die Jungen-Toilette. Schubsten, bespuckten und schlugen sie und drückten Öslans Gesicht schließlich in die Kloschüssel. Das Szenario wurde mit Handys gefilmt und fleißig geteilt. So bekam Uschi Neumann Wind von der Sache. Die Jugendsozialarbeiterin beschäftigt sich seit 15 Jahren mit dem Thema Mobbing und arbeitet seit zehn Jahren für den Verein Puckenhof an einer Eckentaler Mittelschule. Sie gilt als absolute Expertin in Sachen Mobbing. Wenn Schulleitungen sie anfordern, wird sie auch außerhalb „ihrer“ Schule tätig. Über 80 Fälle hat sie mittlerweile gelöst. Neumann hat ein Anti-Mobbing-Programm entwickelt, „dass in 90 Minuten für Ruhe sorgt“ und etwa ein halbes Jahr Nachsorge erfordert. Erfolg habe es in über 90 Prozent der Fälle, betont Neumann.

Die härtesten Mobbing-Fälle passieren in der Grundschule und zwar in der dritten Klasse.

Die härtesten Mobbing-Fälle passieren in der Grundschule und zwar in der dritten Klasse. © imago

Sie arbeitet mit der Tätergruppe und den Mitläufern und nimmt diese langfristig in die Verantwortung. Ganz ohne Schuldzuweisungen. (Im Kasten unten geht es um diesen und einen weiteren Interventions-Ansatz.) Natürlich funktioniert Neumanns Programm nicht über Nacht, manchmal kann es bis zu einem Jahr dauern, bis ein Fall ganz abgeschlossen ist. „Mobbing ist immer ein Schulthema“, sagt die Jugendsozialarbeiterin. Die schlimmsten Fälle ereigneten sich in den Grundschulen und dort in der 3. Klasse. Da müsse man mit Sozialtraining ansetzen.

Keine Konfliktkultur

Doch in den wenigsten Schulen gebe es eine Konflikt-Kultur, Lehrkräfte wüssten oft nicht, was Mobbing für die Schüler bedeutet, moniert Neumann. „Lehrer verschlimmern die Situation sehr oft“, sagt die Jugendsozialarbeiterin. Häufig werde der Täter gezwungen, sich vor der Klasse beim Opfer zu entschuldigen. Das sei das Ende für das Opfer. Denn das Mobbing gehe dann hinter den Kulissen weiter - und zwar umso heftiger. Seit dem Schuljahr 2010/2011 gibt es an Neumanns Schule sogenannte „Mobbing-Wächter“. Jede Klasse muss vier Schülerinnen und Schüler benennen, die in ihrer Klasse dafür verantwortlich sind, dass niemand ausgegrenzt, beleidigt oder gemobbt wird.

Hilfe von außen

Ein gutes Konzept findet Alexandra Schreiner-Hirsch vom Kinderschutzbund in München. Der Landesverband hat im Oktober eine Aktionswoche gegen Mobbing veranstaltet. Workshops und Vorträge gingen virtuell über die Bühne. „Die Resonanz hat uns umgehauen“, sagt Schreiner-Hirsch. Das Thema sei aktueller denn je. Klassenklima entscheidend Lehrkräfte seien oft völlig überfordert mit der Thematik, in deren Ausbildung werde zu wenig darauf eingegangen, sagt Schreiner–Hirsch. Schulen müssen sich oft Hilfe von außen holen.

Immenser Aufholbedarf

Doch die beste Prävention gegen Mobbing sei ein gutes Miteinander an der Schule und ein gutes Klassenklima. „Jede Schule braucht heute ein Anti-Mobbing-Krisenteam“, sagt sie. Schulen hätten immensen Aufholbedarf, das sei die vielfach geäußerte Meinung der Mobbing-Experten auf der Aktions-Woche gewesen. Zu lange hätten Schulleitungen und Lehrer das Thema geleugnet und die Zuständigkeit den Eltern zugeschoben. Dabei sei erwiesen, dass Mobbing nur dort gelöst werden könne, wo es gehäuft auftrete: in der Schule.

Täter haben Opfererfahrung

40 Prozent der Täter haben selbst Opfer-Erfahrung, erzählt Schreiner-Hirsch. „Jeder kann jederzeit zum Opfer werden, es gibt nicht das bestimmte Merkmal.“ Gefährdet seien allerdings autistische oder fettleibige Kinder, doch wenn deren Selbstwert durch eine gute Klassengemeinschaft gestärkt werden, seien auch sie keine potentiellen Opfer mehr. „Schulen müssen nach außen hin klar kommunizieren, dass sie Mobbing nicht dulden und bereit sind, zu handeln“, fordert Schreiner-Hirsch. Für Öslan begann nach der Mobbing-Intervention ein neues Leben. Sie geht in die achte Klasse, hat bessere Noten und sogar Freunde gewonnen. Aus den Reihen der Mobbing-Wächter, die beauftragt worden waren, auf sie Acht zu geben.

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