Erwachsen werden

21.11.2006, 00:00 Uhr
Erwachsen werden

«In der alten Schule hab’ ich halt keinen Bock gehabt, zu lernen.“ Andreas (Name geändert) lümmelt sich in seinen Stuhl und versucht ein provokatives Grinsen. Der 15-Jährige blieb in der sechsten Klasse sitzen, hangelte sich mühsam bis zur achten. Jetzt besucht er die Praxisklasse in der Hauptschule Weinbergerstraße, ein Auffangbecken für Jugendliche, die den Hauptschulabschluss voraussichtlich nicht schaffen würden.

Statt auf Bestnoten setzt man hier seit sieben Jahren auf die so genannte Ausbildungsfähigkeit. Die Jugendlichen lernen spielerisch, sich zu konzentrieren und auch langweilige Aufgaben durchzuhalten. Sie schreiben Bewerbungen, führen Vorstellungsgespräche und lernen ein respektvolles Miteinander. Neben Mathe und Deutsch stehen auch Fächer wie «Erwachsen werden“ auf dem Stundenplan. Am Wichtigsten sind aber die Erfahrungen, die sie bei sechs betrieblichen Praktika sammeln.

«Ich gehe gerne mit schwierigen Schülern um“, sagt Gerhard Schindler und klopft einem mageren Jungen im Klassenzimmer kollegial auf die Schulter. Dabei zählen für den 48 Jahre alten Pädagoge nicht die Noten, sondern die «soziale Kompetenz“. Das heißt: wenig Schwierigkeiten bei der Erziehung und viel Motivation für den Schulwechsel. Maximal 18 Schüler dürfen die Praxisklasse besuchen — die einzige im gesamten Landkreis.

«Wir haben aber so viele Schüler, dass wir locker noch eine Klasse aufmachen könnten“, sagt Schindler. Schwer erziehbar sind seine Schützlinge also nicht. Eigentlich. «Viele hatten jahrelang keinen Erfolg in der Schule und sind frustriert“, sagt Schindler. «Da gibt es schon manchmal Probleme.“

Dennoch funktioniert das Projekt. Das Erfolgsgeheimnis ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: Zeit. Die elf Jungen und sieben Mädchen der Praxisklasse 9E werden von drei Lehrkräften betreut: dem Klassenleiter Schindler, der Förderlehrerin Heidi Fruth und der Diplom-Psychologin Hermine Forster.

Groß werden nach Stundenplan

Fruth unterrichtet die Schüler unter anderem im «Erwachsen werden“. Das geht spielerisch, in Gruppenarbeit. Vor einigen Wochen hat die 38-Jährige mit den Schülern «Fertigmacher“ gesammelt: Schimpfwörter und Beleidigungen, die bei manchen den täglichen Umgangston angeben. «Da sind krasse Wörter dabei“, sagt Fruth. Anschließend mussten sich die Jugendlichen «Aufbauer“ überlegen. Nettigkeiten wie «Wie geht es Dir?“, «Entschuldigung“ oder «Du siehst heute gut aus.“ Dann wurden die «Fertigmacher“ symbolhaft mit den «Aufbauern“ überklebt.

Fruth leitet auch die Mädchensprechstunde: Ein Mal wöchentlich setzen sich die jungen Frauen zusammen und erzählen, was in der Schule und zuhause «so läuft“. Manchmal geht es dabei nur um Partys, manchmal weint ein Mädchen, weil sein Vater nicht mehr mit ihm spricht.

Wer im Plenum nicht reden will, kann nur zwei Zimmer weiter die Psychologin Forster besuchen. Sie kümmert sich um alle individuellen Probleme: sie hilft bei der Praktikumssuche, Prüfungsangst oder Aufmerksamkeitsstörungen und begleitet die Schüler durch das Praktikum. Die Stelle der 50-Jährigen wird zum großen Teil von der Europäischen Union finanziert — und steht auf der Kippe. «Wenn meine Kollegin hier geht, ist das bald eine Klasse wie jede andere“, sagt Schindler. Neben der Zeit lebt das Projekt von der individuellen Förderung. Schindler und seine Kollegen müssen sich an keinen Lehrplan halten, sondern Richtlinien erfüllen. Sie orientieren sich am Leistungsniveau im Klassenzimmer.

Andreas findet die Praxisklasse gut. «Ist viel einfacher und die Lehrer sind auch netter.“ Er will sich anstrengen, damit er einen Ausbildungsplatz bekommt. «Als Metzger, ich mag das Schlachten.“ Seine Mitschüler bevorzugen unblutigere Berufe. Die Mädchen gehen meist in den Verkauf, die Jungen werden Mauerer, Koch oder Gerüstbauer. Auch hier spricht die Statistik für sich: Dreiviertel schaffen den Gesellenbrief.