Pflege nach Maß für Langschläfer oder Krimi-Fans

24.6.2018, 10:23 Uhr
Pflege nach Maß für Langschläfer oder Krimi-Fans

© Foto: Wolfgang Fellner

Ambulant betreute Wohngemeinschaften sind auf dem weiten Feld der Pflege bislang nur kleinere Pflänzchen. Doch auch hier steigt die Nachfrage. Dagmar Bauer, Sachgebietsleiterin der Fachstelle für Pflege- und Behinderten-Einrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht –, kurz FQA, am Landratsamt Neumarkt, hat derzeit vier solcher WG im Landkreis Neumarkt auf ihrer Liste.

Für alle diese Wohngemeinschaften gelten die selben rechtlichen Vorgaben. So darf eine WG nicht mehr als zwölf Bewohner haben. Ein Angehörigensprecher muss gewählt werden, als Ansprechpartner aller Angehörigen, Vermittler und Organisator. Vierteljährlich gibt es ein Treffen, bei dem alles Anfallende besprochen wird. Außerdem muss gewährleistet sein, dass jeder Bewohner den Pflegedienst frei wählen kann.

Was zunächst recht bürokratisch und trocken klingt, ist in der Praxis ein Grundgerüst, auf dem das Leben der Bewohner so individuell und angenehm wie möglich gestaltet werden soll.

Dabei haben sich die einzelnen Wohngemeinschaften auf eine Art der Betreuung spezialisiert. Während die eine Einrichtung beispielsweise auf Menschen mit Demenzerkrankung eingerichtet ist, wird in Postbauer-Heng eine Intensivpflege für Menschen mit Trachealkanüle, die künstlich beatmet werden müssen, angeboten.

WG-Leiter Ralph Schimpf führt bei einem Rundgang durch die Räume: Überall in dem einstöckigen Gebäude fällt die Funktionalität ins Auge. Ob Gemeinschaftsbereich, das Badezimmer mit allen pflegerischen Besonderheiten, Waschküche oder Heizungsraum. Auch die Zimmer der Bewohner haben eine bedarfsgerechte Grundausstattung mit Pflegebett, Schränken, einer Waschgelegenheit, Fernseher und allen notwendigen medizinischen Geräten. Die Einzelzimmer können nach Wunsch mit persönlichen Möbeln, Fotos und anderem gestaltet werden.

In einem der Zimmer liegt Walter B. (Name von der Redaktion geändert). Er ist gerade mal 60 Jahre alt, hatte alles für seinen Vorruhestand geregelt und verunglückte dann mit dem Motorrad. Ein Schock für die Familie. Walter B. ist jetzt einseitig gelähmt, an guten Tagen reagiert er auf seine Umgebung. An schlechteren Tagen ist er abwesend, keiner weiß, was er wahrnimmt, was in ihm vorgeht.

Für ihn ist auch der Stehbarren im Gemeinschaftsbereich, sagt Ralph Schimpf. In diese Vorrichtung wird er geschnallt und kann so seine Umwelt aus der senkrechten Perspektive wahrnehmen. Rund zehn Minuten dauert diese Maßnahme, die unter anderem den Kreislauf in Schwung bringt. Auch wenn der Erfolg nicht immer gleich ist, es gebe immer positive Signale, sagt Schimpf.

Die Familie von Walter B. hat es zunächst zuhause mit einem privaten Pflegedienst versucht. Doch die Aufgabe war so nicht zu bewältigen. Im Haus "Lotte" hat Walter B. nun alles, was er braucht. Die Pflegekräfte sind rund um die Uhr, in Zwölf-Stunden-Schichten, im Einsatz. Jeder Pfleger hat zwei bis drei Personen in seiner Obhut. Zeit genug, neben den notwendigen pflegerischen Aufgaben auch den menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden.

So wird im Gemeinschaftsraum gebastelt oder gespielt und jeder macht mit, so gut er eben kann, oder schaut auch nur zu. Wer in der Lage dazu ist, wird in die Kirche oder zum Einkaufen begleitet und es gibt auch Ausflüge und andere Unternehmungen. Die Fotos an den Wänden zeigen die Aktivitäten bei Sonne und auch im Schnee.

Die persönliche Betreuung lässt auch noch andere Annehmlichkeiten zu, die beispielsweise in einem Pflegeheim rein aus organisatorischen Gründen gar nicht denkbar wären. So gibt es beispielsweise keine festen Besuchszeiten. Die Angehörigen kommen und gehen, wie es für sie passt. Auch eine Übernachtung beim Partner oder Elternteil ist mal möglich.

Ein Bewohner, sagt Schimpf, schläft beispielsweise gern lang. Dem wird Rechnung getragen, vor 10.30 Uhr wird der Mann nicht gestört. Ein anderer ist Sportfan, der Sportkanal läuft in seinem Zimmer Tag und Nacht. Wer nicht in der Lage ist, seine Wünsche selbst zu artikulieren, für den sprechen die Angehörigen.

So werden etwa Radio- oder Fernsehprogramm nach den einstigen Vorlieben der Personen ausgewählt. Rock- und Pop-Fans werden nicht mit Klassik berieselt und Krimifreunde müssen keine Comedy-Serien ertragen. "Man kann ablesen, ob sie sich wohlfühlen", sagt Ralph Schimpf.

Dies und die ruhige Atmosphäre, ohne gestresste Pflegekräfte und einem minutiös geplanten Tagesablauf, der durch nichts Menschliches gestört werden darf, haben auch für Michael Schmidpeter den Ausschlag gegeben, seinen Vater im Haus "Lotte" unterzubringen. Er ist der Sprecher der Angehörigen und vom Konzept sowie dessen Umsetzung überzeugt. Es sei heimelig, beschreibt er die Atmosphäre, und selbstbestimmter als in anderen Pflegeeinrichtungen. Zwölf Vollzeitkräfte, fünf in Teilzeit und fünf Mitarbeiter auf 450-Euro-Basis sind in Postbauer-Heng für insgesamt acht Bewohner zuständig. Dazu kommen noch feste Termine mit Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten.

Und im Fall der Intensivpflege, wie sie im Haus "Lotte" geleistet wird, trägt die Krankenkasse die gesamten Pflegekosten. Lediglich die Miete für das Zimmer müssen die Angehörigen selbst bezahlen. Eine Konstellation, wie sie sich Michael Schmidpeter nicht besser vorstellen kann. Ein Höchstmaß an Pflege und individueller Zuwendung für einen erschwinglichen Eigenanteil der Angehörigen. Die finanzielle Beteiligung der Angehörigen bei einer Unterbringung in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft ist jedoch nicht einheitlich. Es kommt auf viele Einzelheiten und den Grad der Pflegestufe an.

Und etwas Eigenleistung: Als Angehörigensprecher gehört es auch zu Schmidpeters Aufgaben, Wünsche und Sorgen der übrigen Angehörigen an den WG-Leiter und die Pflegekräfte heranzutragen und gegebenenfalls für Abhilfe oder Umstrukturierung zu sorgen.

Noch sei nichts von großer Tragweite zu regeln gewesen, sagt Schmidpeter. Eine Aromatheraphie sei angeregt worden, nennt er als Beispiel. Oder die Auswahl der Pflanzen und des Gemüses, das im Garten angebaut wird. Auch die Organisation gemeinsamer Feste, die es öfter im Jahresablauf gibt, gehört zu seinen Aufgaben. Demnächst steht ein Grillfest an.

Das Haus "Lotte" gibt es in Postbauer-Heng seit rund zweieinhalb Jahren. Es ist das erste Haus der A.I.B. GmbH, das extra für diesen Zweck gebaut wurde. Die übrigen Unterkünfte waren einst normale Wohnhäuser und wurden entsprechend umgestaltet. Geschäftsführer Grökhan Altincik betreibt mittlerweile 22 Wohngemeinschaften in ganz Bayern. Auch das Haus "Nina" in Neumarkt gehört zur A.I.B.. Dort gibt es nur zwei Plätze, die derzeit aber wegen Renovierungsarbeiten nicht belegt sind.

Die Namensgeber der Häuser sind übrigens reale Menschen, meist Kinder oder Enkel von langjährigen Mitarbeitern. Ein Foto jedes Paten hängt in jedem Haus.

 

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