1. Dezember 1965: 809 Kündigungen von Wohnungen

1.12.2015, 07:00 Uhr
1. Dezember 1965: 809 Kündigungen von Wohnungen

© Kammler

Auf steigende Mieten deutet die große Zahl von Anträgen auf Wohn- und Mietbeihilfen hin. Sie liegt viereinhalbmal so hoch wie im vergangenen Jahr. Auch diese Zahlen sind gravierend: 1964 wurden 800.000 DM Miet- und Wohngeld ausgezahlt, 1965 werden es 1,5 Millionen sein.

Verwaltungsdirektor Dr. Oswald Fiedler vom Amt für Wohnungs- und Siedlungswesen befürchtet, daß der Höhepunkt der Kündigungswelle noch lange nicht erreicht ist. Er bedauert diese Entwicklung. „Leider haben wir seit dem 1. Juli keinen Einfluß mehr darauf!“ Nach seinen Unterlagen werden die Kündigungen so begründet: Modernisierung der Häuser und Umbau der Wohnungen in Appartements.

Viele Hausbesitzer hätten plötzlich entdeckt, daß die alten Leute – die Mehrzahl der Betroffenen – nicht mehr in der Lage seien, die Hausordnung richtig zu befolgen. Ein Teil der Hausbesitzer aber habe das „Kind“ beim richtigen Namen genannt: Mieterhöhung. „Kündigungen gerade in der Weihnachtszeit wirken sich natürlich vor allem auf die alten Leute, die Jahrzehnte in einem Haus gewohnt haben, psychologisch aus“, erklärte Dr. Fiedler. Durch die schlechte Witterung sei zudem ein Bauüberhang von 1.400 Wohnungen entstanden, so daß es schwer sei, den plötzlich obdachlos gewordenen Menschen einen geeigneten Ersatz zu bieten.

Die Stadtverwaltung will noch in diesem Jahr ihre elektronische Datenverarbeitungsanlage so einrichten, damit dem Kreis, der Anträge auf Wohn- und Mietbeihilfe stellt, wenigstens die lange Wartezeit erspart wird. Seit dem 1. Juli suchten bei der Wohnberatungsstelle 12.663 Personen Rat. Wesentlich härter beurteilt Max Faustmann vom Mieterverein die Lage. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die aktenkundig gewordenen Fälle von Kündigungen, die in den letzten Monaten ausgesprochen worden sind. „Die Hausbesitzer mißbrauchen die Freiheit, die ihnen das Gesetz eingeräumt hat“, empörte er sich. Vielfach trieben sie ein Geschäft mit der Angst der Mieter, die Wohnung zu verlieren, und erhöhten deshalb bedenkenlos die Mietpreise. Das Mieterschutzgesetz, das viele Jahre gültig war, hätte einige Hausbesitzer auch zu „Racheakten“ verleitet.

Einige krasse Fälle, die dem Mieterverein bekannt geworden sind: einer 69 Jahre alten, halbblinden Frau wurde mit der Begründung „Eigenbedarf“ gekündigt. In einem anderen „blauen Brief“ heißt es: „Bei mir muß alles heraus, ich ich mache aus meinem Haus ein Griechenlager!“ Delikat ist folgendes Kündigungsschreiben: „Aufgrund einer Bezirksverordnung der Regierung von Mittelfranken vom April 1961 dürfen Dirnenhäuser nur in der Frauentormauer unterhalten werden. Ursprünglich war das Anwesen...ein Dirnenhaus und deshalb soll dieses nun wieder in Einzelzimmer umgebaut werden... Daher ersuche ich Sie höflichst, Ihre Wohnung bis Ende 1966 zu räumen, damit keine Verzögerungen der vorgesehenen Umbauarbeiten entstehen..“ Dabei hat die Familie, die seit 31 Jahren dort wohnte, ab 1959 Mieterhöhungen von 48,25 auf 115 DM in Kauf genommen – für eine 67 qm große Wohnung mit zweieinhalb Zimmer ohne Bad.

In einem Haus im Osten der Stadt haben die Mieter auf drastische Mieterhöhungen einfach mit dem Auszug reagiert. Doch nicht jeder findet eine, den finanziellen Möglichkeiten entsprechende Ersatzwohnung. „Diese Beispiele beweisen, daß die Einstufung von Nürnberg als „Weißer Kreis“ ein trauriger Witz war. Die Wohnungen sind Spekulationsobjekte geworden. Man hat einfach versäumt, ein Gesetz gegen willkürliche Kündigungen und Mieterhöhungen zu schaffen“, sagt Max Faustmann.

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