Die Ersatzmutter

30.10.2015, 19:45 Uhr
Die Ersatzmutter

© Foto: Eduard Weigert

Eine Frage stellt Marianne Ecker nie: Warum ihr Gegenüber in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg oder Erlangen einsitzt. Ob er oder sie gestohlen hat, geprügelt, vergewaltigt oder sogar gemordet. Eigentlich will Marianne Ecker das gar nicht wissen. Schließlich ist sie gekommen, um Erste Hilfe zu lehren. Doch im Grunde geht es darum, Häftlingen mit Menschlichkeit zu begegnen und sie ein wenig an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Und das, ohne befangen zu sein, weil man von der schlimmen Vergangenheit des Insassen weiß.

Manchmal will einer reden, über sich und seine Taten. Dann schüttet er sein Herz bei Marianne Ecker, einer 86-jährigen, aber sehr rüstigen Dame mit weichem bayerischen Dialekt und freundlichen Augen aus. „Da hab ich irgendwie einen Mutter-Status.“ Für die Männer und Frauen ist sie jemand, der zuhört, auch mal schimpft, aber wiederkommen und zuhören wird.

„Auch nach unten blicken“

Ecker kennt nun grauenhafte, aber auch bewegende Geschichten. Sie weiß, dass das Schicksal manchen Menschen übel mitspielt. Dass viele mit so viel Gepäck in ihr Leben starten mussten, dass sie es nicht tragen konnten, unter das Last nachgaben — und auf der schiefen Bahn landeten.

Schon ihr Vater schärfte der jungen Marianne ein, auch an die zu denken, denen es im Leben nicht so gut geht. „Du musst nicht immer nach oben schauen, sondern auch mal nach unten blicken“, habe er immer gesagt. Und die Tochter hielt sich daran. Bereits Ende der 1940er trat sie mit 19 Jahren in Ingolstadt ins Bayerische Rote Kreuz ein. Sie ließ sich zur Schwesternhelferin ausbilden, später machte sie Seminare, etwa zur Trauerbegleitung und Gesprächsführung. Sie engagierte sich im Landes- und Bezirksvorstand.

Das nahm viel Zeit in Anspruch. Doch ihr Mann, der vor eineinhalb Jahren starb, habe ihr Engagement immer akzeptiert und unterstützt, erzählt Ecker, die im früheren Böhmen geboren und in der Nachkriegszeit ausgesiedelt wurde. „Ich wäre um einiges ärmer, hätte ich das BRK nicht.“ Es ist nicht nur die Dankbarkeit ihrer Klienten, die ihr Kraft gibt, sondern auch die Freundschaft mit den anderen Ehrenamtlichen. Ihre Leidenschaft hat sich vererbt: Auch ihre Tochter ist im Roten Kreuz aktiv.

Heute trifft sich Marianne Ecker regelmäßig mit einem BRK-Frauenarbeitskreis. Sie fährt ins Gefängnis, um Erste-Hilfe-Kurse anzubieten. Sie packt in der Vorweihnachtszeit kleine Geschenke für Frauen, die in der JVH einsitzen und niemanden haben, der sie am Heiligen Abend besuchen würde. Sie gibt Erste-Hilfe-Kurse speziell für Senioren — „wenn ich ihnen sage, dass man auch im Alter Hilfe leisten kann, dann glauben sie es“. Außerdem besucht Marianne Ecker regelmäßig die Obdachlosenwohnheime in der Nürnberger Großweidenmühlstraße: Sie organisiert Ausflüge und Spenden für Kaffee-Nachmittage, kümmert sich um Referenten für Vorträge. Außerdem hält sie natürlich ihre eigenen Kurse ab. Gleichzeitig ist sie auch für die Männer und Frauen in der Unterkunft ein wenig Ersatzmutter. „Wenn Sie meine Mama gewesen wären, wäre ich wohl nicht so geworden“, sagte einmal ein junger Obdachloser, der eine schwere Kindheit hatte, zu Marianne Ecker. Ein solcher Satz bleibt hängen — und bestärkte die Nürnbergerin in ihrem Engagement.

„Mir ging es — bis auf die Zeit der Aussiedlung — immer gut“, sagt Ecker. Und von diesem Glück will sie einen Teil der Gesellschaft zurückgeben. Genug Bedürftige gibt es. Das Obdachlosenheim ist eigentlich immer voll, auch die Notschlafplätze sind nachgefragt. „Selbst wenn Deutschland eigentlich ein reiches Land ist, leben viele Menschen am Rande der Gesellschaft.“ Ihnen zu helfen, das hat sich Ecker schon als junge Frau vorgenommen. Und sie tut es immer noch, viele Jahrzehnte später, mit inzwischen 86 Jahren.

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