17. Dezember 1969: Wunschzettel – nicht für Rentner

17.12.2019, 07:00 Uhr
17. Dezember 1969: Wunschzettel – nicht für Rentner

© Fischer

Einen neuen Mantel, ein Paar warme Schuhe kann sich dieser Rentner nicht leisten. Kein Wunder, sein monatliches Einkommen beträgt ganze 194 Mark. Die Hälfte davon schlucken Miete, Holz und Kohlen, der Rest muß zum Leben reichen.

So wie Ihm geht es vielen. Wir haben uns im Sozialamt darüber informiert: in Nürnberg gibt es allein 1.278 Personen, die eine Rente „unter den Sozialhilfesätzen“ erhalten. Diese Definition bedeutet bei Alleinstehenden eine Rente von unter 150 Mark und bei Ehepaaren eine Rente von unter 240 Mark. Hinzu kommen Hunderte von Rentnern, deren Einkommen das Existenzminimum um ein paar Mark übersteigen.

Was den Alten das Leben so schwer macht, ist nicht nur das schmale Einkommen bei immer höher steigenden Lebenshaltungskosten: Krankheit und Gebrechen tragen das ihre zur Not bei. Zwei Rentnerinnen zum Beispiel – 98 Jahre alt die Mutter, durch einen Sturz über die Kellertreppe halb gelähmt die 60jährige Tochter – sind seit dem ersten Schneefall bis zum Frühjahr in ihre 43 Quadratmeter große Wohnung eingeschlossen. Solange draußen vor der Türe Schnee und Glätte lauern, können sie nicht aus dem Haus. Nachbarn übernehmen die Besorgungen.

Ein Tag wie jeder andere

Die 60jährige plagt sich auf Krückstöcken mit Besen und Putzeimer ab und steigt täglich in den Keller hinunter, um Kohlen zu holen. Genügsamkeit bestimmt den Alltag der Frauen. „Kei Gans gibt‘s net am Heiligen Abend“, sagt die Oma und fügt sarkastisch hinzu: „zwengs der schlanken Linie.“ Was den Gabentisch betrifft, so ist man nicht verwöhnt. Die 98jährige Dame erinnert sich: „Mir hat das Christkindl mal ein Kopftücherl gebracht und einmal ein Paar Brautschuhe. Aber sonst... vielmehr war es nie.“ Und die Tochter sagt: „Weihnachten – das ist für uns ein Tag wie jeder andere.“

Im Nordwesten der Stadt, in den zwei Zimmern eines Nürnberger Kunstmalers ist kaum ein Stück Wand zu sehen, Ölgemälde hängen über- und nebeneinander. Aber die frohen Farben wirken zu grell in der Wirklichkeit. Der 72jährige malt nicht mehr. Blau angelaufene Lippen zwischen dem sauber geschnittenen grauen Vollbart verraten das schwere Herzleiden. Er verbringt seine Tage im Sessel. immer wieder ruhelos aufstehend und im Zimmer umherlaufend. Neben dem Sessel steht einsatzbereit eine große Sauerstoff-Flasche. Der erste Weltkrieg hat dem Kunstmaler eine Beinprothese aufgezwungen, die mit den Jahren immer schwerer wurde und der er nun auch sein Herzleiden verdankt. Ein krankes Herz aber verlangt einen sorgfältigen Speiseplan, der die ganze Rente auffrißt.

Scheu vor Sozialamt

Die Frau des Malers, 69 Jahre alt und selbst schwer behindert, hat an der Zimmerlampe ein paar Sterne aus Goldpapier aufgehängt. Vielleicht, so hofft sie, bleibt soviel Geld für eine Flasche Eierlikör oder Rotwein übrig; der Mann bräuchte es so dringend um wieder einmal ohne Tabletten einschlafen zu können.

Das Sozialamt hilft Minderbemittelten mit Zuschüssen aller Art. So können sie sich in Textilgeschäften einen neuen Mantel aussuchen und mit einem Gutschein oder sogar mit Bargeld bezahlen. Doch viele Bedürftige scheuen sich, den Anspruch beim Sozialamt anzumelden.

Wirtschaftsminister Schiller hat unlängst vor ungezügelter Kauflust gewarnt, weil sie die Preise anheizen könnte. Die Kleinstrentner haben diese Sorge nicht. Sie haben es leichter als jener Angestellte. der zu seinem Kollegen sagte: „Mein einziger Wunsch für Weihnachten ist, daß ich mein neues Auto noch zum alten Preis bekomme.“

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