13. Dezember 1962: Straßenbahn soll unter die Erde

13.12.2012, 06:58 Uhr
13. Dezember 1962: Straßenbahn soll unter die Erde

© Gerardi

Der Professor empfahl gestern dem Stadtrat, einen „Großen Ring“ von Tunnels zu bauen, der 11,5 Kilometer lang vom Plärrer durch die Altstadt zum Hauptbahnhof über die Allersberger Straße bis zur Schweiggerstraße und von dort über die Landgrabenstraße durch den Steinbühler Tunnel wieder zum Plärrer führt. An den großen Kreuzungen sollen die anderen Strecken an dieses Netz der „U-Strab“ angeschlossen werden.

Niemand im Rathaus gab sich freilich der Illusion hin, daß dieses glückliche System für Straßenbahn und Autofahrer von heute auf morgen gebaut werden kann. Prof. Lamberts Angabe, daß „sicher erst in ein bis zwei Jahrzehnten ein Endausbau möglich ist“, wirkte umso glaubhafter, als er die Kosten für einen Kilometer Tunnelstrecke auf 20 bis 30 Millionen Mark schätzte; für jeden Kilometer fallen dann noch „Folgelasten“ (etwa für das Verlegen von Kanälen und Leitungen oder den Straßenbau) in der gleichen Höhe an. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man für einen Kilometer mit gut 50 Millionen DM rechnet.

Das langerwartete Gutachten, das der Aufsichtsrat der Verkehrsbetriebe (VAG) im Oktober 1960 bestellt hatte, versetzte die Stadtväter nicht nur ob solcher Zahlen in Staunen und machte sie beinahe sprachlos. Was noch von Prof. Feuchtinger, der vor vier Jahren die großzügige Verkehrsplanung der Stadt vorgelegt hatte, als unnötig für Nürnberg abgetan worden war, verlangte Prof. Lambert nun klipp und klar: „Das heutige und künftige Straßennetz muß viel rationeller genützt werden als bisher. Der einzige Weg dazu ist die Entflechtung der beiden inhomogenen Verkehrsarten“. Straßenbahn und Kraftfahrzeuge müssen also getrennt werden. Dies konnte nur bedeuten, daß die Straßenbahn bei der drückenden Enge im Stadtkern unter die Erde geht.

Viermal „unterirdisch“

Obwohl sich die Stadtväter bei Reisen in andere Städte und Länder in den letzten Jahren schon an manches gewöhnt hatten – sie wollten schließlich vor nicht allzu langer Zeit beinahe noch eine Straßenbahnlinie von der Lorenzkirche zum Paniersplatz bauen -, fielen sie doch fast aus den Wolken, als Dr. Lambert die Konsequenzen seiner emsigen Studien am Nürnberger Verkehr zog. Unumwunden schlug er zur Wahl vier unterirdische Wege für das Massenverkehrsmittel vor:

1. „Großer Ring“: Plärrer (Anschluß Fürth und Schweinau), Kornmarkt, Mauthalle (Abzweigung zur Sebalder Stadtseite unter der Pegnitz hindurch), Hauptbahnhof-Allersberger Straße (Anschluß Südfriedhof und Langwasser), Landgrabenstraße (Gibitzenhof), Steinbühler Tunnel, Plärrer.

2. Variante „Großer Ring“: Plärrer, Karolinenstraße, Marientor (Abzweigung Rathenauplatz), Hauptbahnhof, Celtistunnel, Landgrabenstraße, Plärrer.

3. „Kleiner Ring“: Plärrer, Karolinenstraße, Marientor (Abzweigung Rathenauplatz), Hauptbahnhof, Opernhaus (Abzweigung Tafelhoftunnel, Südfriedhof, Langwasser), Sandstraße, Plärrer.

4. „Stern“: Plärrer, Kurt-Schumacher-Straße (Kornmarkt), Mauthalle mit Gabelung Lorenzkirche, Rathenauplatz und Hauptbahnhof, Celtistunnel mit Richtung Südfriedhof und Langwasser.

Der Hochschul-Rektor, von den Nürnberger Stadtoberen gebührend empfangen und mit Vorschußlorbeeren ausgestattet, ließ aber keinen Zweifel daran, daß er seinen ersten Vorschlag für den besten hält und dafür gute Gründe hat. Mit den beiden großen unterirdischen Achsen durch die Altstadt und die Landgrabenstraße können zwei wichtige Teile des Stadtgebietes „erschlossen“ werden: das große Geschäftszentrum und der industriestarke Süden. Rechnet man ein Einzugsgebiet von 300 Metern um die Haltestellen an dieser geplanten Tunnelstrecke, so werden 135 000 Einwohner erfaßt.

Bei der Variante „Großer Ring“ sind es nur 72 v. H. dieser Zahl, beim „Kleinen Ring“ nur 67 und beim „Stern“ nur 62 v. H.

Ein Tunnelplatz von 11,5 Kilometern

Der besonders empfohlene „Große Ring“ hat obendrein den Vorteil, daß an ihm die Straßenbahn-Strecken aller bedeutenden Einfallstraßen wie Rothenburger und Schwabacher, Bayreuther und Sulzbacher, Gibitzenhof- und Allersberger Straße angeschlossen werden können. Mit einem Tunnelnetz von 11,5 Kilometern und 20,5 Kilometern offener Tiefbahn kommt er nur wenig teurer zu stehen als die zweifellos bruchstückhaften übrigen Vorschläge, die im Falle des kleinen „Sterns“ auch schon 8,8 Kilometer Tunnel und 17,7 km offener Tiefbahn nötig machen würden.

13. Dezember 1962: Straßenbahn soll unter die Erde

© Gerardi

Für den Weg vom „Großen Ring“ zur Sebalder Stadtseite konnte Prof. Lambert – mit leicht schwäbischem Tonfall – auch noch drei Vorschläge liefern; einmal von der Mauthalle über die 13 Meter tiefe Haltestelle an der Lorenzkirche, unter der Pegnitz bei der Museumsbrücke hindurch, am Rathaus vorbei zur Laufer Gasse; zum anderen von der Mauthalle über die Theatergasse und Peter-Vischer-Straße – wiederum unter der Pegnitz – zum Hans-Sachs-Platz; und schließlich von der Mauthalle über die Lorenzkirche zum Marientor und von dort zum Rathenauplatz.

Dies alles zeigte der Gutachter den Stadtvätern, die sich womöglich zu dieser Zeit schon in einem Traumland wähnten, als „harte und nüchterne Realität“ auf. Er ermahnte sie: „Billiger können Sie es nicht machen!“ Prof. Lambert deutete aber auch an, daß eine Stadt allein solche Projekte nicht finanzieren kann.

Oberbürgermeister Dr. Urschlechter schloß sich solchen Gedanken allzu gerne an und schielte mit einem Auge bereits nach Bund und Land. Besonders setzte sich der Professor mit dem Problem auseinander, ob für Nürnberg nicht auch eine Untergrundbahn in Frage käme. Er selbst gab aber rasch die Antwort: „Das ist nicht nötig.“ Andere Städte von vergleichbarer Größe wie Bremen, Köln und Stuttgart haben sich bereits für die „U-Strab“ entschieden, weil sie für vieles spricht. Sie muß nicht wie die U-Bahn ständig in Tunnels geführt werden, sondern kann sich in den Außenbezirken auf eigenen Bahnköpfen wieder an der frischen Luft sehen lassen; ihre Reisegeschwindigkeit von 22 Stundenkilometern hinkt keineswegs stark hinter den 26,1 km/h der Berliner U-Bahn her. Mit einer Leistungsfähigkeit von 24 000 Personen pro Stunde und Fahrtrichtung ist sie für Großstädte wie Nürnberg gerade recht.

Dieses Ja zur U-Strab wird entscheidende Folgen haben. Die Straßenbahn muß wohl – oder übel – aus Straßen verschwinden, die nicht in den „Großen Ring“ eingeschlossen sind oder auf ihn zulaufen. Ihre Aufgabe werden – beispielsweise in der Pirckheimerstraße und am Kirchenweg – Omnibusse übernehmen, die als Zubringer zu den großen Knoten wie Plärrer oder Bahnhof dienen. So etwas war schon lange prophezeit, aber von niemanden recht geglaubt worden. Für den Baureferenten war die Quintessenz aus dem Gutachten: „Der U-Strab darf der Weg nicht verbaut werden!“ Daher wird man beim bevorstehenden Plärrer-Umbau auch zunächst auf Fußgängertunnels verzichten.

Andererseits setzte sich Schmeißner dafür ein, daß zunächst mit allen Kräften am Schnellstraßen-System und anderen Entlastungsstraßen weitergebaut wird. Bisher hat er beim Wettlauf zwischen Verkehrsbelastung – in Nürnberg gibt es auf sechs Einwohner schon ein Auto – und Straßenbau erkennen müssen: „Was geschaffen wird, frißt der Verkehr gleich wieder weg!“

Aus den Nürnberger Nachrichten vom 13. Dezember 1962

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