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15. Januar 1972: Spiel mit hohem Einsatz

15.1.2022, 07:00 Uhr
15. Januar 1972: Spiel mit hohem Einsatz

© Kammler

Der Stadtrat beschloß bei den Etatberatungen im Dezember, dem leidigen Feilschen um die Subventionen ein Ende zu bereiten und das ganze Problem neu zu durchdenken. Die möglichen neuen Formen reichen von der totalen Auflösung des Orchesters bis zur völligen Übernahme durch die Stadt.

Unser Report, der sich auf Gespräche mit den beiden Geschäftsführern, dem Chefdirigenten, mit fünf Musikern aus dem Orchestervorstand und dem Betriebsrat sowie den Fraktionsvorsitzenden der SPD und CSU stützt, versucht eine Bestandsaufnahme und stellt einige Modelle zur Diskussion. Einig sind sich alle Beteiligten darüber, daß die bisherige Situation geändert und verbessert werden muß.

Auch darüber, daß die Nürnberger Symphoniker in Franken dringend gebraucht und deshalb erhalten werden müssen, gibt es kaum Meinungsverschiedenheiten. Schwieriger wird die Frage nach dem besten Konzept, das eine künstlerische und materielle Entwicklung gewährleistet. Bis zur Stunde lebt das Privatorchester buchstäblich von der Hand in den Mund.

Jahr für Jahr muß es bei Staat und Stadt um Zuschüsse betteln und jeder Seufzer des Kämmerers über die kommunale Geldmisere löst bei den Musikern ernste Sorgen aus. Die Subvention der Stadt stieg von 10 000 DM (1956) auf über eine halbe Million. Das Finanz-Diagramm für 1972: Gesamt-Etat 1 700 000 DM Zuschuß der Stadt Nürnberg 530 000 DM Zuschuß des Staates 605 000 DM Zuschuß Bezirk Mittelfranken 50 000 DM Gesamt-Zuschuß 1185 000 DM.

Es müssen eingespielt werden: über 500 000 DM. Nach den Angaben der Geschäftsführer Willy Luther und Georg Trummeter bringen die Konzerte mehr als die Hälfte dieser Einnahmen, der Rest fließt aus Rundfunk- und Schallplatten-Aufnahmen. (Über die Schallplatten-Produktion „Colosseum“ berichten wir gesondert.)

Für das Orchester bedeuten diese unsichere Dotation und der hohe Einspielzwang harte und ungerechte Arbeitsbedingungen. Laut Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) müßten die 63 Mann starken Symphoniker in Gruppe C eingestuft sein. Sie arbeiten jedoch für eine Entlohnung, die der niedrigsten Gruppe D nicht einmal voll entspricht, sondern nur angeglichen ist. Für die Musiker gibt es keinen Ortszuschlag, der allein monatlich 250 - 300 DM ausmachen würde, von anderen, tariflich verankerten Vergünstigungen wie Instrumentenzulage oder Kleidergeld, können sie nur träumen. Orchestervorstand und Betriebsrat haben da keinen leichten Stand.

Trotzdem herrscht ein gutes Klima und die Zusammenarbeit mit dem Chefdirigenten klappt – wie Vorstände und Betriebsräte versichern. Die Musiker nehmen die empfindlichen Nachteile hin, auf die Pauke hauen sie nur, wenn es in der Partitur steht. Dafür leisten sie noch mehr als andere. Die im TVK festgelegten 32 Mindestdienste im Monat werden ständig überschritten, meistens sind es 40, im Extrem sogar über 50.

Die Orchesterwarte sind „Mädchen für alles“: Elektriker, Kraftfahrer, Notenpfleger, Putzfrau; sie schaffen noch über 60 Wochenstunden. Von den 191 Gesamtaufführungen (Konzerte, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen 1971) waren 72 öffentliche Konzerte, davon 53 in Nürnberg. Daß die aus materieller Not geborene Überbeanspruchung nicht ohne Auswirkung bleibt auf die künstlerische Leistung, liegt auf der Hand. Der Teufelskreis schließt sich: der Zuschuß hängt von der Qualität ab, die Qualität wiederum von der Finanzausstattung.

Wie kann hier wirksam geholfen werden? Unter den verschiedenen Möglichkeiten der Sanierung und Neugestaltung hat die völlige Übernahme durch die Stadt die geringsten Aussichten. Ein zweites Orchester mit allen Folgelasten käme viel zu teuer und auch die Symphoniker möchten ihrerseits die Selbständigkeit bewahren. Der Vorschlag, sich auf ein Kammerorchester gesundzuschrumpfen, hat gleichfalls wenig Chancen, weil dann die Symphoniker ihre bisherigen Aufgaben nicht mehr erfüllen könnten. So konzentriert sich die Diskussion auf folgendes Modell: Die Stadt gewährt den Symphonikern eine eigene Haushaltsstelle mit dynamisiertem Zuschuß.

Damit wäre die weitere Kostenentwicklung bereits als Anmeldung im Stadthaushalt wie bei jeder städtischen Dienststelle und müßte nicht erst durch Antragstellung hineinmanövriert werden. Die bislang freiwillige Subvention hätte dann ein rechtliches Fundament. Die Symphoniker könnten nicht nur für jeweils ein Jahr, sondern langfristig planen und engagieren.

Fazit: es kommt darauf an, daß die Stadträte noch in dieser, im Juni zu Ende gehenden Legislaturperiode eine Ordnung schaffen, die den Fortbestand der Nürnberger Symphoniker gewährleistet, daß sie Lösungen finden und verwirklichen, die von Dauer sind und die Grundlage bilden, um eine neue Ära für das in Franken notwendige und qualitativ gute Orchester einzuleiten, ohne das die musikalische Landschaft erheblich veröden würde. Alle halben Entscheidungen verlängern das Siechtum und führen kurz über lang dazu, daß die Töne hinter den dicken Mauern des NS-Torsos am Dutzendteich vollends verstummen. Die Nürnberger Symphoniker spielen bereits den letzten Satz ihrer eigenen Schicksals-Symphonie.

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