18. Juni 1966: Wiedersehen mit Freude und Wehmut

18.6.2016, 07:00 Uhr
18. Juni 1966: Wiedersehen mit Freude und Wehmut

© Gerardi

Nürnberg aber wurde besonders deshalb auserkoren, weil die alte Reichsstadt mit ihren Türmen und Toren viele lebendige Erinnerungen wachruft an das mittelalterliche Bautzen in der Oberlausitz, das als „sächsisches Nürnberg“ gilt. Die Gäste – viele sind schon am „Tag der deutschen Einheit“ eingetroffen – kommen aus Nord und Süd, aus West und halbwegs Ost herbei, um ein Wiedersehen zu feiern, aber auch um ein Bekenntnis zum Land ihrer Väter und der eigenen Jugend abzulegen.

"Nuguggemada" werden die Sachsen an diesem Wochenende sagen, wenn sie durch Nürnberg streifen, den Schönen Brunnen bewundern, das Männleinlaufen verfolgen und vor der alten Kaiserburg stehen. Die Sachsen staunen gerne – und bestaunenswert ist ja auch "Des Deutschen Reiches Schatzkästlein", in das die Vorstände der Bundeslandsmannschaft (Sitz Hamburg) ihre Mitglieder mit den Worten eingeladen haben: "Die alte Freie Reichsstadt will Ihnen zeigen, was ihre Kaufherren und Handwerker, ihre Künstler und Techniker vor Jahrhunderten schufen. Die moderne Großstadt Nürnberg präsentiert Ihnen aber auch ein lebendiges Gegenwartsbild. Hier vereinigen sich die Traditionen deutscher Geschichte. Kommen Sie zum Sachsentag! Wir versprechen: es lohnt sich!"

18. Juni 1966: Wiedersehen mit Freude und Wehmut

© Privat

Wie sich das lohnen kann, werden die neuen Entdecker Nürnbergs, die zwischen Saale, Pleiße und Elbe daheim waren, beim Ausschwärmen bald feststellen: sie spüren Gemeinsamkeiten mit den fränkischen Gastgebern. Es ist der Kaufmannsgeist (nicht nur versinnbildlicht durch den "Kaufmannszug" am Haus der Industrie- und Handelskammer), der beiden vom 13. Jahrhundert an zu eigen ist, als die Nürnberger nach Sachsen zogen, um die begehrten und teuren Spezereien, voran Pfeffer und Drogen, zu bringen. Sie hatten die Ware aus Venedig bezogen und beim Umschlag viel Geld gemacht. In einer Chronik der Patrizierfamilie Tucher heißt es: "Mit Recht haben die Venezianer gesagt, die Nürnberger seien durch den Gewürzhandel aus dem Nichts reich geworden!"

Auch „Ströme des Geistes“ flossen

Nichtsdestotrotz: die auch heute noch "hellen" Sachsen wissen, daß ihre traditionelle Leipziger Messe, später durch die sächsischen Kurfürsten und Könige gefördert, gewissermaßen eine "Nürnberger Gründung" ist. "Die Kaufleute aus Franken", so schreibt Albert Herzog zu Sachsen in der Festschrift zum Treffen 1966, "organisierten den Handel mit den erst kolonisierten Gebieten des Mitteldeutschlands und betätigten sich als Verleger im Bergbau und im Textilgewerbe. So wurden sie Pioniere der später so bedeutsamen sächsischen Industrie". Das ist, fürwahr, ein Wort, und wenn man weiß, daß Nürnbergs erste Fernverbindung mit der Eisenbahn 1844 (über Bamberg) nach Leipzig zustande kam, verfliegen über die engen Handelsbeziehungen zwischen Franken und Sachsen alle Zweifel.

Die geistigen Beziehungen, denen sich viele mitteldeutsche Gäste anno 1966 bewußt werden mögen, sind nicht minder bedeutsam. Was die Sachsen in der Politik nicht hielten, denn hier waren sie kaum erfolgreich, das boten sie in reichem Maße in Philosophie, Theologie, Literatur und Musik. Diese  "Ströme des Geistes" flossen, von Nietzsche, Leopold von Ranke, Richard Wagner, Johann Sebastian Bach und Luther bereichert, zunächst einmal mindestens bis Franken hin. Friedrich der Weise von Sachsen förderte Dürer (ließ sich auch von ihm porträtieren) und machte den Nürnberger Patrizier und Ratskonsulenten Dr. Christoph Scheurl 1506 zum Ordinarius der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wittenberg.

Der Reformator Martin Luther, der wegen seines Thesenanschlag 1517 in Nürnberg begeisterten Widerhall fand, hatte als Befürworter vor allem Willibald Pirckheimer, Lazarus Spengler, den Augustinerprior Wolfgang Volprecht und u. a. den Ratsherrn Anton Tucher. Hans Sachs besang ihn als "Wittembergische Nachtigall", und der Humanist Philipp Melanchthon, sein engster Freund, ( in Torgau an der Elbe, der provinz-sächsischen "Endstation" des letzten Krieges, arbeiteten sie 1525 die neue Gottesdienstform aus) half entscheidend bei der Einrichtung des Nürnberger Gymnasiums am Egidienberg, das heute noch (längst an der Sulzbacher Straße) seinen Namen trägt. Am 23. Mai 1526 hielt er die Eröffnungsrede und später viele Vorlesungen.

Der gegenseitig beflügelnde Austausch war noch weitaus reger, als er hier beschrieben werden kann. Seit J. F. Böttger statt des von August dem Starken ersehnten Goldes das "weiße Gold", das Porzellan, bescherte und der letzte Sachsenkönig Friedrich August ("mit dem Sinn für das Abänderliche") zu der Abordnung des neuen Arbeiter- und Soldatenrates zwar ungnädig, aber mit aller Entschiedenheit sagte: "Na, da macht euren Dreck alleene!" – seitdem ist viel Wasser die Elbe und die Pegnitz hinuntergelaufen. Die Sachsen, die nach 1945 in den Westen flüchteten (1,6 Millionen insgesamt), wissen ein Lied davon zu singen. Wie immer und überall: es ist ihnen nichts geschenkt worden – gleichgültig, ob sie vielleicht "bekannt" wurden wie Peter von Zahn, Thilo Koch, die Kessler-Zwillinge, Erich Kästner oder der SPD-Politiker Herbert Wehner, der sich ja als gebürtiger Dresdner demnächst ins Redneraustausch-Duell in Chemnitz mischen will.

Den meisten, die aus der Heimat weggingen, weil es dort nicht mehr auszuhalten war, haftet ein "Odium" an, das beispielsweise auch den Franken "in die Nase steigt". Klarer Fall: die Sachsen sächseln. Sie sagen "Kindersch" und "mei Guts'ter", sie rufen "ei verbibbch!", wenn sie erstaunt sind und dabei schieben sie bloß den Unterkiefer vor, "mach'ne Gusche und lassen eenfach alles loofen". Der "linguistisch so bedauernswert gebrandmarkte Volksstamm" hat nichts zu lachen. Er wird nur belächelt. Dabei hat es Zeiten gegeben, in denen man sich vom sächsischen Singsang nicht mit Grausen abwandte, beispielsweise im 18. Jahrhundert.

Da war sogar der Frankfurter Wahlsachse Johann Wolfgang von Goethe nach Leipzig geschickt worden, um die „wohlklingende, zierliche Sprechweise" zu erlernen. "Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein Klein-Paris und lehret seine Leute", das stammt genauso von ihm wie "Sachsen, Sachsen! Ey! Ey! Das ist starker Tobak!" Genau: obersächsisch ist der Kern des Hochdeutschen, und erst auf Luther geht die deutsche Schriftsprache zurück. Nuguggemada!

Auch die sächsischen Nachbarn aus alter Zeit, die sich an diesem Wochenende Nürnberg als Treffpunkt ausgesucht haben, werden sich trotz aller Anstrengung, hochdeutsch zu reden, für das fränkische Ohr unzweideutig "verraten". Wenn sie den Mund auftun (vielleicht um Nürnberger Bratwärschtla zu bestellen), weiß es ein jeder: sie, die da zwar viel "warchen" und "mären" (tüchtig arbeiten, aber auch langwierig erzählen), sie sind aus dem Land, in dem die "scheenen Mädchen uf de Beeme wachsen". Weißgrün sind ihre Farben und Sächseln ihr Schicksal. Old Shatterhand und Winnetou von Landsmann Karl May marschieren im Geiste mit.

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