1953: Tragisches Schicksal

27.4.2013, 14:22 Uhr
1953: Tragisches Schicksal

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Der ehemalige Soldat Kulik war schon im Ersten Weltkrieg durch einen Bauchschuss schwer verwundet worden. Seit 1927 galt er als 100 Prozent kriegsbeschädigt. Seit 1931 erhielt er auch Pflegezulage, da er dauerhaft fremde Hilfe benötigte. In einem amtsärztlichen Gutachten wurde jedoch 1949 festgestellt, dass seine Leiden anlagebedingt und nicht Folge der Kriegsverletzung wären. Damit stand ihm keine Kriegsbeschädigtenrente zu.

Er klagte und bekam vor Gericht zwar erst einmal Recht. Bei einer weiteren Nachuntersuchung aber wurde er wieder auf null gesetzt. „Noch ehe sein Einspruch behandelt wurde, griff er zum Strick, weil er die seelischen und körperlichen Qualen nicht mehr ertragen konnte“, schrieben die Nürnberger Nachrichten zu seinem Freitod.

Viele strittige Fälle

Sein Schicksal ging als „Fall Kulik“ durch die Presse. Denn Anfang der 1950er Jahre gab es in Deutschland noch viele Kriegsversehrte wie ihn, deren Einstufung auf der Skala der Erwerbsminderung strittig war.

Die Nürnberger Nachrichten berichteten Ende April 1953: „Schon lange geht das Gerücht um, ,Kv—Schreiber-Ärzte‘ seien wieder am Werk und würden die Rentenansprüche von Kriegsbeschädigten radikal herabsetzen oder gar völlig streichen.“ „Kv“ war damals ein nicht erläuterungsbedürftiges Kürzel, das „kriegsverwendungsfähig“ hieß, aber nach dem Krieg natürlich ironisch gemeint war.

Für Betroffene wie Kulik engagierte sich der Verband der Kriegsopfer VdK. Der Sozialverband berichtete im gleichen Zusammenhang eine weitere Geschichte, weniger tragisch, eher komisch: Ein Bauer aus Oberbayern war im April 1945 als dienstunfähig aus einem Lazarett entlassen worden. Seitdem bezog er eine 70-prozentige Kriegsopferversorgung. Bei der Nachuntersuchung in München, die der selbe Arzt wie bei Kulik durchführte, wurde ihm der Versorgungsanspruch auf null heruntergesetzt. Das wurmte den Mann vom Land, aber er verließ sich beim weiteren Vorgehen ganz auf seine Bauernschläue. Nach einem halben Jahr ließ er sich die Haare schneiden, den Bart stutzen und fuhr dann als angeblicher Gutsverwalter zum Amtsarzt, um sich als Privatpatient untersuchen zu lassen. Der erkannte ihn nicht wieder und stellte ihm ein Zeugnis über seine Arbeitsunfähigkeit aus. Das ursprüngliche Gefühl, dass es beim Gutachter um Eindruck und städtische Arroganz und nicht um Sachkompetenz ginge, hatte den Bauern nicht getrogen. Seine Rente wurde wieder anerkannt.

Insgesamt war laut VdK etwa bei jedem sechsten Bescheid Berufung eingelegt worden. 70 Prozent der Einsprüche wurden zugunsten des Staates entschieden. In der Bundesrepublik lebten 1952 über 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte mit einer anerkannten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zwischen 30 und 100 Prozent, davon 650 000 Schwerbehinderte (MdE über 50 Prozent).

Die Höhe der Versorgungsleistungen war in den frühen Jahren der Bundesrepublik auch immer ein politisches Thema und führte zu Demonstrationen in München, Bonn und Nürnberg. Jedoch soll hier der Einsatz für eine anerkannte Versorgung nicht vergessen machen, dass das politische Hauptziel — wo dies möglich war — die Integration der Menschen mit Behinderung in das Berufsleben des Wirtschaftswunderlandes war: von medizinischen und orthopädischen Hilfen und Versehrtensportverbänden über die Berufsqualifikation in den damals erfolgreichen Industrieberufen bis hin zu Quoten für Ämter und Betriebe war das ein gewaltiges Programm.

Keine Veteranenverbände

Dieser Teil des Sozialsystems ruhte allerdings auf ursprünglich strittigen Voraussetzungen: Die Alliierten wollten keine separate Struktur zur Versorgung von Kriegsopfern zulassen, weil damit Veteranenverbände als möglicherweise militaristische Organisationen entstehen könnten. So war die Integration der Kriegsversehrten in die Gruppe der Zivilpersonen mit Behinderung zwingend.

Wie aber sollte das Maß der Erwerbsminderung von Ärzten angemessen ermittelt werden? Medizinisch kann eine Qualität, allenfalls noch eine Handlungseinschränkung angegeben werden. Aber die Umrechnung in Prozent dient ja der Festlegung einer Quantität, nämlich des Verdienstausfalles auf dem Arbeitsmarkt, einem Gebiet also, auf dem die Medizin keine besonderen Fachkenntnisse hat.

Kompetent oder nicht: Der oben geschilderte Amtsarzt zumindest war, nachdem ihn der pfiffige Bauer hereingelegt hatte, seines Amtes enthoben worden.

Die hier nacherzählte Geschichte nahm der Münchner Autor Karl Stankiewitz in sein 288 Seiten starkes „Weißblaues Schwarzbuch“ auf, in dem es um Skandale, Schandtaten und Affären geht, die Bayern erregten und das 2010 im Volk Verlag erschien.

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