20. Februar 1970: Konservativen sträubt es die Haare

20.2.2020, 07:00 Uhr
20. Februar 1970: Konservativen sträubt es die Haare

© Contino

Nicht genug damit: hier schwitzen Mädchen an der Hobelbank und Buben über Kochtöpfen. Hier können Schüler scheinbar mühelos eine Klasse überspringen, und hier können sie auch ihren Direktor kritisieren, wenn ihnen am Schulbetrieb etwas nicht paßt. In den 1914/15 errichteten ehrwürdigen Mauern des Bielingschulhauses, dem Sitz der Peter-Vischer-Schule, weht ein für Bayerns Schullandschaft ungewohnt frischer Wind, der manchem konservativen Pädagogen die Haare zu Berge stehen läßt.

Die Gründung des Gymnasiums war ein wesentlicher Schritt auf das Ziel einer Gesamtschule hin. Ihr Merkmal: alles unter einem Dach – die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium. Noch fehlt zwar der Dritte im Bunde, fehlt die Hauptschule. Doch der Zusammenschluß von Realschule und Gymnasium unter einer Leitung und mit einem integrierten Lehrerkollegium ist gelungen; zum erstenmal in Bayern.

20. Februar 1970: Konservativen sträubt es die Haare

© Contino

In neuen Gebäuden reformieren ist nicht schwer. Doch an alten Räumlichkeiten sollen Reformen nicht scheitern, sagte sich die Schulleitung. Wo aber nahm man die Räume für das Gymnasium her? Nun, sie waren schon da. Man gab einfach das Klassenzimmer-Prinzip auf und richtete neben den üblichen Fachräumen für Physik, Chemie und Musik weitere Spezialräume ein. Mit den notwendigen Unterrichtsmitteln wurden Fachräume für Englisch, Mathematik, Erdkunde, Geschichte, Biologie usw. ausgestattet. Erfolg: mehr Schülern konnte mehr geboten werden.

In der Gesamtschule entfällt die soziale Gliederung, die das Gymnasium höher als alle übrigen Schulen einstuft. Direktor Karl Lang: „Wir wollen nicht mehr auslesen, sondern fördern.“

Daß einzelne Schüler eine Klasse überspringen, hat man schon gehabt. Daß eine ganze Realschulklasse dies versucht, ist neu. 24 besonders begabte Schülerinnen und Schüler der vorjährigen 7. Klassen der Realschule wurden in einer gesondert gebildeten 9. Klasse zusammengefaßt. Sie werden damit den Stoff von drei Jahren (8. bis 10. Klasse) in zwei Jahren durchnehmen und somit die Schule ein Jahr früher verlassen. Das Zwischenergebnis nach einem halben Jahr ist ermutigend. Unter 240 erteilten Noten wurden nur drei „Fünfer“ registriert. Gymnasialprofessor Welk: „Dabei ist allerdings ein Spanier, der in Deutsch eine ‚Fünf‛ erhielt.“

Wieviel Demokratie läßt sich in einer Schule verwirklichen? Die Peter-Vischer-Schule wollte es wissen. Hier können Schüler zwei Wochenstunden des musisch-technischen Pflichtunterrichts unter folgendem Fächerkatalog frei auswählen: Kunsterziehung, Emaillieren, Fotografieren, Radiobasteln, Elektronik und Kochen. Buben sind nach sechs Monaten meistens in der Lage, einen delikaten Braten anzurichten, oder haben in diesem Semester ein Transistorgerät eigenhändig zusammengebastelt.

Als einzige öffentliche Schule in Nürnberg stellte die Peter-Vischer-Schule eine Ganztages-Gruppe mit bis zu 35 Schülern zusammen. Die Schüler werden an vier Nachmittagen bis 16 Uhr betreut und können in der Schule ein warmes Mittagessen einnehmen. Sie lernen unter Anleitung älterer Schulkameraden.

An je einem Wochentag versammeln sich die Schüler der einzelnen Klassenstufen in der Aula. Sie erhalten von der Schulleitung alle wichtigen Informationen und Begründungen zu verschiedenen Anordnungen. Aber dabei bleibt es nicht: die Schüler können vielmehr selbst kritisieren, Fragen stellen, Verbesserungsvorschläge machen. Denn Fortschritt hört niemals auf.

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