23. Juni 1966: Das höchste Wohnhaus Europas

23.6.2016, 07:00 Uhr
23. Juni 1966: Das höchste Wohnhaus Europas

© Gerardi

Gegenwärtig hält Schweinfurt mit einem 25stöckigen Gebäude den europäischen Wohnhaus-Rekord. An der Höhe des geplanten Wolkenkratzers gibt es nichts mehr zu rütteln. Der Stadtrat, der sich jahrelang nicht allzu hoch hinauswagte, hat bereits sein „Jawort“ gegeben. Das Bauwerk soll an den Hang des Hügels gegenüber der Tullnau zu stehen kommen, auf dem ein Schornstein noch heute an die frühere Zeltner-Brauerei erinnert. Es wird ohne Zweifel den eindrucksvollsten Blickfang am künftigen Wöhrder See bilden.

23. Juni 1966: Das höchste Wohnhaus Europas

© Gerardi

Wie das Hochhaus aussehen soll, ist noch nicht entschieden. Der Baukunstbeirat hat empfohlen, einen Wettbewerb auszuschreiben, damit bei dieser ebenso wichtigen wie schwierigen Aufgabe die beste aller Möglichkeiten gefunden wird. „Man kann nicht einfach nur eine Kiste hinstellen“, meinen die Leute vom Fach, die sich ein so großes Gebilde gegliedert wünschen. Als ein gewisses Vorbild schwebt ihnen das Aldo-Haus in Bremen-Vahr vor, um nur einen Anhaltspunkt zu nennen.

Welch ein Problem die äußere Gestalt eines solchen Wohn-Riesen darstellt, läßt ein Zahlenvergleich erkennen. Die höchsten Mietbauten im Stadtgebiet erheben sich gegenwärtig in der Parkwohnanlage Neuselsbrunn. Es handelt sich dabei um Gebäude mit 21 Stockwerken und einer Höhe von 64 Metern. Der Wolkenkratzer am Wöhrder See soll also doppelt so mächtig gen Himmel ragen. Gegen das höchste Gebäude der Welt, das Empire State Building (381 m) in New York, wird er sich freilich bescheiden ausmachen.

23. Juni 1966: Das höchste Wohnhaus Europas

© Jules Stauber

Eine Nürnberger Baugesellschaft hat den Grund und Boden für das gigantische Projekt bereits in ihrem Besitz. Sie will in dem Haus der Superlative ein Hotel und Appartements im „Boarding-House-Stil“, möglicherweise auch Eigentumswohnungen unterbringen. Die Mieter der Boarding-Haus-Fluchten sind heute schon zu beneiden, denn sie brauchen sich um nichts zu kümmern; in ihren vier Wänden ist stets dafür gesorgt, daß Sauberkeit und Ordnung herrscht. Außerdem liegen ihnen der See und die ganze Stadt zu Füßen.

Die langjährige Klage über die Bettennot in den Hotels hat jedoch auch schon andere Bauherren auf den Geschmack gebracht, ihr Glück als Hoteliers zu versuchen. Baureif sind bereits die Pläne der ESSO AG für ein „Motel“ an den Flachweihern. In der geplanten „City“ von Langwasser mit ihren 36geschossigen Bauten soll ebenfalls ein Hotel entstehen. Hingegen scheint das Projekt der amerikanischen Hilton-Gesellschaft geplatzt zu sein, von dem schon lange – hinter der hohlen Hand – die Rede gewesen war.

Dem Ziel ihrer Wünsche ist die ESSO AG am nächsten. Nach langwierigen Grundstücksverhandlungen steht nun dem Beginn des „Motel“-Baues nichts mehr im Wege. Bei dem Tauziehen war es vor allem um den Preis gegangen. Die Stadt hatte nämlich ursprünglich den Grund und Boden am Valznerweiher vom bayerischen Staat billig bekommen, denn sie hatte ihn als Grünfläche benötigt; weil er nun wirtschaftlich genutzt wird, wollte das Finanzministerium „einige Fünferla“ für jeden Quadratmeter mehr kassieren. Die ESSO bezahlte und kann bald an die Arbeit gehen.

Das „Motel“ (der Name besagt: für das Auto ist gesorgt) wird etwa an jener Stelle entstehen, an der jetzt noch die Gastwirtschaft zu finden ist. Der Bettentrakt ist viergeschossig vorgesehen; ihm schließt sich ein Restaurant ebenerdig an. Ausreichende Parkmöglichkeiten sind in den Komplex ebenso eingeplant wie eine Tankstelle. Der besondere Reiz des Hotels im Grünen: die Gäste können den Ausblick zum Silbersee im Volkspark Dutzendteich genießen. Noch ein wenig Zukunftsmusik ist der Gedanke an ein Hotel im Zentrum von Langwasser, denn über die Pläne für diese „City“ wird zur Zeit erst hinter verschlossenen Türen beraten. Es ist jedoch schon bekannt, daß auch in diesem Falle der Stadtrat seine bisherige Scheu ablegen will, beim Bauen in die Luft zu gehen. Vier riesige Türme von 84 Meter Höhe sollen dem Kern der Trabantenstadt ein weltstädtisches „Gesicht“ geben. Wenn es die Sicherheit für den neuen amerikanischen Flughafen bei Feucht erlaubt hätte, wäre die Stadt vielleicht sogar noch ein wenig höher hinausgegangen.

Es ist so gut wie sicher, daß das Zentrum ein Hotel bekommt. „Das gehört doch zu einer Siedlung, in der einst 60.000 Menschen wohnen“, meinen die Männer vom Bau. Unterkünfte für Gäste sind um so nötiger, weil die Wohnungen in ihrer heutigen Größe kaum Platz für Besuch bieten. Trotz einer späteren U-Bahn-Verbindung von Langwasser zur Altstadt, trotz der gut ausgebauten Münchener Straße soll Fremden die Möglichkeit eingeräumt werden, in der Nähe ihrer Verwandten und Bekannten zu wohnen.

Damit aber ist die Liste der Hotelpläne noch nicht erschöpft. Es wird in diesen Tagen überlegt, ob nicht nahe der Meistersingerhalle eine Herberge solcher Art geschaffen werden soll. Die Stadt ist bereit, Gelände in Erbpacht zu vergeben, wenn sich ein Bauherr findet. Sie selbst kann für solche Zwecke kein Geld mehr abzweigen, denn sie braucht jeden Pfennig für dringende öffentliche Ausgaben. An dieser mißlichen finanziellen Lage scheint auch das Hilton-Projekt gescheitert zu sein, denn die amerikanische Gesellschaft machte es zur Bedingung, daß sich die Stadt beteiligt.

Aber dafür bekommt Nürnberg ja ein Hotel, das ihm den neuen Superlativ einträgt, das höchste Wohnhaus Europas zu besitzen.

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