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27. Oktober 1971: 250 Mieter plötzlich ohne Licht

27.10.2021, 07:00 Uhr
27. Oktober 1971: 250 Mieter plötzlich ohne Licht

© Fischer

Die Städtischen Werke hatten am Montag dem „Wohnheim Izmir“ den Strom abgedreht, weil ihre Rechnung in Höhe von über 600 Mark nicht bezahlt wurde. Sie beschworen damit – schuld- und ahnungslos – einen Riesenskandal herauf, der nicht nur die Richter beschäftigen wird.

Das Polizeirevier 1 befand sich gestern, durch Rechtsanwalt Dr. Willi Heim verständigt, in erhöhter Alarmbereitschaft. Denn einige Bewohner des Heimes fühlen sich in ihren Zimmern nicht mehr sicher, schon in der ersten stromlosen Nacht wurden sie durch fortwährendes Pochen an ihre Tür und schleichende Schritte auf den dunklen Korridoren in Angst versetzt. Der Türke Ertulgan Kenan (38) bekennt freimütig: „lch habe Angst.“

Bewohner fühlen sich ausgebeutet

Die plötzliche Finsternis im ehemaligen Krankenhaus und die Furcht vor Gewalttätigkeit erhellen schlagartig die traurigen Verhältnisse, in denen Gastarbeiter in Nürnberg leben müssen. Dabei brachte die fällige Stromrechnung nur ein volles Fass zum Überlaufen. Es geht nicht um den Strom, es geht um die Mieten, die einige der Gastarbeiter rundweg als Ausbeutung bezeichnen.

In den Korridoren des ehemaligen Krankenhauses zieren Heiligenbilder die Wände, und Sprüche sind da zu lesen wie „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke“ oder „Fürchte dich nicht, glaube nur“. In eben diesem Haus zahlen Gastarbeiter für ein etwa 10 Quadratmeter großes Zimmer 151 Mark im Monat. In einem der größeren Zimmer, in dem früher etwa sechs Krankenbetten standen, lebt heute eine sechsköpfige Familie und zahlt 300 Mark Miete im Monat.

Einige der Gastarbeiter versichern nun, man habe ihnen bei ihrem Einzug vor einigen Monaten versprochen, in der Miete seien Strom, Gas und Wasser bereits enthalten. Die Mietverträge, die ihnen später vorgelegt wurden, sagten anderes aus: zuzüglich zur hohen Miete sollten sie weitere runde 50 Mark für Strom, Gas und Heizung entrichten. Ein Teil der Gastarbeiter reagierte empört und ignorierte den Vertrag.

Dann aber, Anfang Oktober, wurde dem Pächter des Wohnheims, dem Kaufmann Jürgen F., die fällige Stromrechnung zugestellt. Und am Sonntagnacht – bei Ertulgan Kenan schlug die Uhr gerade 22.30 – suchte Jürgen F. mit seinem türkischen Hausverwalter alle Mietparteien auf, um zu kassieren. Kenan war so erbost über die Forderung und deren Zeitpunkt, daß er sogar die Polizei rief. Andere Mieter zahlten nicht, so daß der Pächter Jürgen F. nur ein gutes Drittel der offenstehenden Stromrechnung kassieren und bei der EWAG eine Anzahlung leisten konnte. Die Folge: es wurde dunkel über Martha-Maria.

Nun gibt es im Ausländerwohnheim zwei Lager: die einen, die zahlen und ihre Ruhe haben wollen, und die anderen, die eine Zahlung rundweg ablehnen. Hatte Rechtsanwalt Dr. Heim die Polizei alarmiert, um die Verweigerer zu schützen, so rief Pächter Jürgen F. gestern Polizeischutz an, weil er sich selbst bedroht fühlte.

In einer von Kerzenlicht gespenstisch beleuchteten Mieterversammlung unter Polizeischutz (zwei Streifenwagenbesatzungen, acht Mann) appellierte Rechtsanwalt Dr. Heim an alle Bewohner von „Izmir“, Gewalttätigkeiten zu meiden und den Frieden zu wahren.

Dr. Heim kündigte jedoch noch gestern abend eine Kette von einstweiligen Verfügungen gegen Pächter Jürgen F. an. Jetzt haben die Richter das Wort.

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