4. Mai 1965: Spenden mit Herz und Verstand

4.5.2015, 07:00 Uhr
4. Mai 1965: Spenden mit Herz und Verstand

© Gerardi

Aus allen Ansprachen, die bei Kerzenlicht, surrenden Kameras und vor Ritterrüstungen gehalten wurden, klang die Sorge um die Mutter in einer „vermechanisierten Zeit“. Sie wurden von Vertretern der Industrie, der öffentlichen Sozialleistungsträger, Regierung, Ärzteschaft und der Städte Nürnberg und Fürth mit Beifall aufgenommen.

Am Vormittag waren in der Zentrale des nun 15 Jahre bestehenden Müttergenesungswerkes aktuelle Anliegen der gesundheitlich und seelisch überforderten Frauen erörtert worden. Frau Liselotte Nold, die Vorsitzende des Bayerischen Mütterdienstes, schilderte stellvertretend für die erkrankte Geschäftsführerin Frau Dr. Antonie Nopitsch, daß in 183 Heimen mittlerweile mehr als eine Million Mütter den oft ersten Urlaub ihres Lebens gekostet hätten. Alle wären am Rand ihrer Kräfte gewesen, als sie zu den vierwöchigen Kuren eintrafen; gestärkt und ermutigt, die „meist geradezu erschreckend große Verantwortung“ wieder zu tragen, seien sie heimgefahren.

In der gut besuchten Pressekonferenz, zu der sich auch die 82jährige Hedwig Heuss, Schwägerin des verstorbenen Altbundespräsidenten und damit auch der Stifterin des Deutschen Müttergenesungswerkes, Frau Elly Heuss-Knapp, die Vorstandsmitglieder der Trägerverbände und Kirchen sowie Sozialreferent Dr. Max Thoma eingefunden hatten, wurden zum Thema der Tagung „Verantwortung der Frau – Verantwortung für die Frau“ bemerkenswerte Beiträge der Referenten laut. So warnte vor allem Professor Dr. Georg H. M. Gottschewski vom Max-Planck-Institut Mariensee vor der weitverbreiteten Sucht werdender Mütter, während der Schwangerschaft reizstarke Beruhigungs-, Weck- und Schlafmittel einzunehmen. „Mißbildungen, das wissen wir heute“, so sagte der Wissenschaftler, „sind schon im frühesten Stadium der Kindesentwicklung auslösbar!“

„Die gegenwärtig tragende Generation ist zwar unter der verhängnisvollen Devise ,Genuß ohne Reue groß geworden´“, fuhr Professor Gottschweski fort, „aber wir wollen doch nicht eine anonyme Gesellschaft entscheiden lassen, wie es unseren Kindern und Kindeskindern ergeht, sondern selbst ernsthaft Verantwortung tragen. Auch jede junge Mutter muß das bedenken und soll nicht Opfer einer geldhungrigen Industrie sein!“

„Abrechnung“ mit den Ehemännern

Schonungslos rechnete Professor Dr. Dr. H.-E. Richter von der Psychomatischen Universitätsklinik Gießen mit den heutigen Ehemännern ab. Durch den dynamischen Schwung der Frau zur erfolgreichen Selbstentfaltung fühle sich der Mann in seiner eigenen sozialen Rolle geschwächt und weiche der Verantwortung für die ganze Familie aus, indem er die Rolle des einzigen oder ältesten Sohnes spiele und „alles andere“, von der Steuererklärung bis zur Geburtenplanung, seiner Frau überlasse. „Die neurotischen Rivalitätsgefühle lösen eine Kette wechselseitiger Enttäuschungen aus. Dabei aber überschätzt der Mann, dem die Anpassung an den eigenen Machtrückgang mißlingt, die Kraft der Frau und Mutter!“

Beide Referenten bejahten das jüngste Bestreben des Müttergenesungswerkes, neben den Erholungsaufenthalten für gesundheitlich gefährdete, einfach „abgeschaffte“ Frauen individuelle Sonderkuren für werdende Mütter durchzuführen. „Hier wollen wir helfen, beraten und vermitteln“, sagte Liselotte Nold, „wir wollen ein Stück Verantwortung übernehmen und den ,Bildungsnotstand´ abbauen!“ Viele Mütter seien den Nöten des täglichen Lebens nur deshalb wehrlos ausgeliefert, weil sie zu wenig wissen. „Aufgaben und Ansprüche wandeln sich“, erklärte Frau Wilhelmine Lübke, „Millionen Schicksale wolle geklärt und Menschen befriedigt werden!“ Das Müttergenesungswerk, dessen Muttertagssammlung noch bis 9. Mai dauert – bunte Blümchen und Postkarten werden angeboten – habe deshalb noch viel vor, um sein Ziel zu erreichen: die Frauen im Alltagskampf stark zu machen.

Verwandte Themen


Keine Kommentare