4. Mai 1971: Misst das Gesetz mit zweierlei Maß?

4.5.2021, 07:00 Uhr
4. Mai 1971: Misst das Gesetz mit zweierlei Maß?

© Ulrich

Das beklagt nicht nur der vielzitierte „kleine Mann“, sondern der höchste Polizeibeamte Nürnbergs, Dr. Horst Herold. Der Polizeipräsident gab den NN ein Interview.

Herr Präsident, Sie haben auf einer Veranstaltung der Deutschen Journalisten-Union festgestellt, unser Strafverfolgungssystem arbeite weder effektiv noch gerecht. Was meinen Sie damit?

Dr. Herold: Von allen verübten Straftaten wurden der Polizei nach Schätzungen von Fachleuten allenfalls die Hälfte überhaupt bekannt. Von den bekanntgewordenen Straftaten wird nur etwa die Hälfte aufgeklärt. Von den aufgeklärten Fällen schließlich gelangt etwa nur die Hälfte zur Verurteilung, das ist also höchstens ein Achtel aller Straftaten. Wenn es sonach weitgehend vom Zufall abhängt, ob jemand bestraft wird oder nicht, so ist das Strafverfolgungssystem eben weder wirksam noch gerecht.

Wie setzt sich die Gruppe von Straftaten zusammen, die letztlich zur Verurteilung kommen. Lassen sich dabei bestimmte Schwerpunkte erkennen?

Dr. Herold: In der Zeit vom Januar 1968 bis Dezember 1970 sind 14 626 polizeilich aufgeklärte Fälle von der Justiz abgeschlossen worden. Wir haben sie mit Hilfe des Computers ausgewertet. 6175 Fälle, also 42,2 Prozent, wurden mangels Nachweises, wegen Geringfügigkeit oder aus sonstigen Gründen eingestellt. In 8163 Fällen, das sind 55,8 Prozent, wurden Strafen verhängt. Beim Rest erging Freispruch. Interessant ist, daß die Bestrafungen in 4214 Fällen (51,8 Prozent) durch Urteil nach öffentlicher Hauptverhandlung, in 3949 Fällen (48,4 Prozent) durch Strafbefehl erfolgten. Ein Strafbefehl ergeht in einfach gelagerten Fällen, wo es nichts zu bestreiten gibt. Der Strafbefehl ergreift regelmäßig die Primitivdelikte; jenes genannte Achtel aus der Gesamtmasse aller Straftaten, das überhaupt einer Bestrafung zugeführt werden kann, besteht sonach nochmals zur Hälfte aus kleinen Fällen.

Könnte man also sagen, daß unser Strafrecht sich hauptsächlich auf die Dummen stürzt?

Dr. Herold: Von den 3949 durch Strafbefehl erledigten Fällen waren 1376 Fälle des einfachen Diebstahls, überwiegend Ladendiebstähle, 734 Fälle des Mundraubes, z. B. Wegnahme einer Wurst im Kaufhof, 198 Fälle des Hausfriedensbruches – meistens Stadtstreicher, Penner, usw. – Zechpreller, kleine Dirnen, Wirtshausschläger, usw. Intellektuelle anspruchsvolle Delikte sind es jedenfalls nicht.

Hat der Klügere größere Chancen davonzukommen? Oder hat sie etwa gar der Reiche?

Dr. Herold: Unsere objektiven Zahlen lassen eine Formel erkennen: je einfacher und faßbarer das Delikt tatsächlich und rechtlich gelagert ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit der Bestrafung. Diese Wahrscheinlichkeit sinkt, je komplizierter die Sachlage ist, die der geschickte Täter nutzen kann. Bei Primitivdelikten ist die Einstellungsquote gering, z. B. beim einfachen Diebstahl 25,2 Prozent, Hausfriedensbruch 27 Prozent – meistens wegen Geringfügigkeit –, beim Mundraub 8,3 Prozent usw. Dagegen ist die Einstellungsquote hoch, sobald es kompliziert wird, z. B. beim Betrug 54,2 Prozent – ausgenommen den Zechbetrug –, im Bereich der sogenannten Wirtschaftskriminalität: bei Konkursdelikten, Verstößen gegen das GmbH-, Aktien - oder Börsengesetz, Geld- und Kreditbetrug usw. Der Intelligenztäter erkennt und nütz die Schwächen unseres Strafverfolgungssystems. Ist er finanziell auch noch gut gestellt, so kann er durch Schriftsätze, Berater, Gutachten usw. die Verteidigungsmöglichkeiten umfassender ausschöpfen. Ihm kommen das Steuer- und Bankgeheimnis natürlich eher zugute als dem, der nichts hat.

Vor der Deutschen Journalisten-Union haben Sie sich dafür eingesetzt, den Begriff der Wirtschaftskriminalität zu erweitern. Wie meinen Sie das?

Dr. Herold: Unter Wirtschaftsstraftaten versteht man herkömmlicherweise solche, die, im wirtschaftlichen Bereich begangen werden, wegen der Höhe der verursachten Schäden erhebliche Störungen des Wirtschaftslebens zur Folge haben, namentlich den kaufmännischen Großbetrug, Untreue, Insolvenzen, usw. Die gesetzlichen Handhaben zur Verfolgung sind unzulänglich. Der vor 100 Jahren unter völlig anderen Verhältnissen formulierte Betrugstatbestand genügt zwar für Zechpreller und Heiratsschwindler, reicht aber zur Verfolgung z. B. illegaler Kreditmanipulationen nicht aus. Korrekturen des Strafrechts sind dringend erforderlich. Weitaus schlimmer ist jedoch, daß für zahlreiche absolut gesellschaftsfeindliche Handlungen keine oder nur ungenügende Strafandrohungen existieren, wie z. B. Bodenwucher, Preisabsprachen, Steuerflucht, Subventionserschleichung, Wechsel- und Scheckmanipulationen, wirtschaftsegoistische Umweltverseuchung, usw. Der Gesetzgeber wird nicht umhin können, sich dieser Fragen anzunehmen.

Können Sie ein einfaches Beispiel gesetzgeberischer Korrekturen nennen?

Dr. Herold: Wer in einem Selbstbedienungsladen einen Topf entwendet, ist ein Dieb, wird wegen eines kriminellen Vergehens verurteilt und gilt als vorbestraft. Wer dagegen leichtfertig 5 Millionen DM an Steuern verkürzt oder vorsätzlich falsche Belege ausstellt oder Falschbuchungen vornimmt, um Steuern zu hinterziehen, begeht nach einer Gesetzesänderung des Jahres 1966 kein kriminelles Unrecht mehr, sondern handelt nur noch ordnungswidrig, ohne strafrechtliche Folgen. Mit welcher Elle der soziale Rechtsstaat hier seine Bürger mißt, bleibt uns Polizeibeamten ein Rätsel.

Welche Schäden entstehen durch die Wirtschaftskriminalität?

Dr. Herold: Im Jahre 1970 hatten wir in Nürnberg Schäden in Höhe von 7,9 Millionen DM, nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Betriebswirtschaft in der Bundesrepublik 4,3 Milliarden. Würde der Begriff der Wirtschaftskriminalität auf die noch nicht strafbedrohten Tatbestände erstreckt, so würden sich diese Summen vervielfältigen.

Gäbe es Möglichkeiten unser Strafverfolgungssystem wirksam und gerecht zu gestalten?

Dr. Herold: Ja. Seit Jahr und Tag weisen Vertreter der Polizei darauf hin, daß man Polizei und Justiz nicht als bloßes Vollstreckungsorgan des Staates mißverstehen, sondern als Instrumente zur ständigen Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen möge. Kraft ihrer unmittelbaren Berührung mit der Wirklichkeit besitzt die Polizei tiefere Einsichten in Ursachen und auslösende Momente des Verbrechens und in gesellschaftliche Strukturdefekte. Sie ließen sich, gleichsam gesellschaftssanitär, durch ständige Anpassung der Normen nutzen. Innere Reformen wären möglich, die keinen Pfennig kosten. Federstriche des Gesetzgebers würden genügen.

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