50 Jahre Schauspiel aus Kantinensicht

2.11.2009, 00:00 Uhr
50 Jahre Schauspiel aus Kantinensicht

© Fengler

Trotz laufender Veränderungen ist eines immer gleich geblieben in 50 Jahren Schauspielhaus: die Kantine. Gewiss, auch sie hat die Masken gewechselt, hat sich manchmal neu geschminkt. Aber immer gibt es Stadtwurst mit Senf. Das physische Zentrum der mimischen Kunst – das ist die Kantine. Oder auch das Auge des Hurrikans. Drum herum tobten 50 Jahre lang Kabalen, Lieben und Intrigen. In der Kantine wurden sie verdaut.

Nein, sie war gewiss nicht unbeteiligt an den großen Prozessen und kunstpolitischen Exzessen. Aber am Ende hat man hier doch immer weggetrunken, was man hier womöglich angezettelt hatte. Denn in der Kantine wird mehr Theaterpolitik gemacht als in den Denkstuben der Dramaturgen und Direktoren. Hier wird gekungelt und geklüngelt. Hier menschelt es auch.

Manche halten Hof, andere schmollen am Tresen

In der Kantine spuckt man sich vor der Premiere um die Ohren. Hier sinkt man sich nach der Premiere in die Arme. Die Techniker in den Blaumännern hocken herum. Daneben die Maskierten vom Opernchor und die Verkleideten vom Schauspiel. Hier halten die Stars Hof, die doch immer nur Stars auf Zeit sind, Lieblinge des Publikums, das seine Sympathien leichtfertig vergibt und wieder entzieht.

Andere schmollen dumpf am Tresen: ewige Chargen, ganze Spielzeiten ohne vernünftige Aufgabe, bis ihre Verträge dann endlich nicht verlängert werden oder bis sie die Verträge von sich aus nicht verlängern und an andere Häuser gehen – voller Hoffnungen. Aber welcher Schauspieler ist schon berühmt geworden, nachdem er von Nürnberg weggegangen ist? Momentan fällt da nur Jürgen Tarrach ein, der auf allen Leinwänden und Bildschirmen ubiquitär ist.

Alte Mimen-Namen glänzen noch aus alten Direktorien herüber. Aus der Gründungs-Ära unter Schauspielchef Hesso Huber: Wolf Richards, Kurt Hepperlin, Hildegard Krost, Hansdieter Asner, Hannes Riesenberger, Anneli Granget – Anneli Granget und ihr einsamer Freitod im Reichswald. Wochenlang war das Thema in der Kantine.

Hier beginnt die Schauspieler-Liebe und hier endet sie auch. Plötzlich bekommt der Lebensgefährte von zarter Hand Blumensträuße in die Garderobe geschickt. Schauspieler/Innen sind eitel, lassen sich gern schmeicheln, verfallen zuweilen auch mit dem ganzen Körper Verehrer/Innen. In der Kantine des Schauspiels war die Liebe schon vor 1968 frei.

Doch es gibt auch die demonstrierte Treue am Theater – Spiel ist ja alles. Der weißhaarige Schauspieldirektor Hesso Huber und seine Frau Charlotte zum Beispiel. Bei Premieren gab sie die Diva in der Mitte der ersten Zuschauerreihe. Hessos Inszenierungen fand sie gut, sonst schüttelte sie gern den Kopf, vor allem, wenn es auf der Bühne «modern» zuging. Laut einer Anekdote soll sie in Kantinen-Gesprächen stets auf Hubers große Zeiten bei Max Reinhardt verwiesen haben, bis er sie sanft korrigierte: «Aber Charlotte, das war doch in Plauen!»

Alte Zeiten. Die erste Ensemble-Generation nach dem Neubau des Schauspiels. Uralte Platzmieter verklären die Epoche als Pschigode-Ära mythisch. Vielleicht war das Klima in der Kantine noch nicht ganz so frostig, wie es später wurde. Doch damals wurden bereits Erbhöfe begründet, Seilschaften gestrickt, die Auswirkungen bis in die 90er Jahre hatten. In der Kantine wurden eigene Süppchen gekocht, nicht in der allerersten Verantwortungs-Reihe, eher eine Ebene gleich darunter.

Irgendwie fallen zu diesen Vorgängen der spätere Betriebsdirektor Winfried Weisel ein oder der Verwaltungsdirektor Willi Eck. Der Verwaltungsdirektor wurde etabliert, als mit dem Tod von Generalintendant Karl Pschigode das Intendanten-Modell erst einmal auslief, als das Schauspielhaus den Schauspieldirektor bekam und das Opernhaus den Generalmusikdirektor.

Wie auch immer: Um bestimmte Personen bildeten sich Kristallisationskerne für Hausmächte. Da wurden Fallen aufgestellt, in die Neulinge tappten, sogar wenn sie mit aller amtlichen Autorität ausgestattet waren: Oberspielleiter, viel spätere Generalintendanten. Sie konnten sich leicht in Netzwerken verheddern. Sie mussten zwischen den Fraktionen lavieren, die in der Kantine an verschiedenen Tischen tagten.

Aber Bühnen-Koalitionen werden nur auf Zeit geschlossen. Plötzlich platzen Freundschaften und Dienstbeziehungen. Der Stern eines Schauspielstars sinkt, weil er im Kantinen-Suff über den Oberspielleiter gelästert hat. Sein mimischer Rivale wird aus der Versenkung geholt. Plötzlich spielt nicht mehr Jochen Kuhl die wichtigen Rollen, sondern Michael Abendroth, und dann Kuhl erneut und dann doch der neueste Neue: Michael Rademacher oder Michael Hochstrasser oder . . .

Hoffnung auf den neuen Schauspielchef

Jochen Kuhl ist 1972 als Musketier D’Artagnan am Seil in die damals ganz neue Spielstätte Katharinenruine und ins Nürnberger Ensemble geklettert. Jetzt ist er in Rente und spielt seitdem öfter. Dazwischen hat er Aufstiege und Abstiege erlebt – immer in der Kantine. Vielleicht ist er deswegen alkoholisch abstinent geworden. Und hat auf neu berufene Schauspielchefs gehofft.

Zum Beispiel auf Hans Dieter Schwarze, der 1975 als Nachfolger von Hesso Huber nach Nürnberg kam, als das Schauspielhaus gerade mal wieder umgebaut wurde. Schwarze scheiterte jedoch schnell mit seinem Konzept eines Volkstheaters und floh abrupt aus der Stadt. Es kam ein glückliches Interregnum. Friedrich Schirmer, der einem Übergangs-Triumvirat angehörte, ist später als Intendant in Stuttgart berühmt geworden. Den Nürnbergern hat er ein unsterbliches Erbe hinterlassen: Die Ur-Inszenierung von «Schweig Bub!».

In dem Stück wird viel gegessen. Und immer wenn auf der Bühne gegessen wird, tritt die Kantine ins Scheinwerferlicht. Was auf die Bühnentische kommt, wird dort zubereitet. Insofern ist sie nicht nur Aufenthaltsraum, Zuflucht, Notunterkunft, Intrigenschmiede, Festsaal für Premierenfeiern, Szene für private und berufliche Tragödien und Theke für die Mitarbeiter-Verköstigung (wer denkt eigentlich daran, dass «cantina» im Wortsinn Flaschenkeller bedeutet?).

Wenn Suppe auf der Bühne gefordert wird, ist die Kantine auch Theaterwerkstätte – wie immer das kalt gewordene Gebräu an der Rampe schmecken mag. Die hohe Kunst des Schauspiels ringt den Akteuren allemal den Mimus des Genusses ab.

Bis 1985 hat es in Nürnberg übrigens eine Ersatzkantine für die städtisch betriebene des Schauspiels gegeben. Das war die Bratwurstgaststätte «Sternle» im Haus des Apollo-Kinos in der Sterngasse. Dort traf sich das Theatervolk. Dort gluckte es mit den Kritikern der kommunalen Gazetten zusammen. Dort saß, kaum dass die Gaststätte um 16 Uhr geöffnet wurde, der Dramaturg mit seinem Dackel und seinem Wein. Dorthin ging man nach den offiziellen Premierenfeiern und feierte nun richtig bis in die Morgenstunden.

Manchmal wurden dort die druckfrischen Kritiken, die Schauspieler und Regisseure selbstverständlich niemals lesen, aber im Andruck aus dem Bahnhofsbuchhandel holten, diskutiert. Dem dabeisitzenden Kritiker wurden Prügel angedroht. Aber verabreicht wurden sie nie.

Als Dependance der Schauspielkantine ist das «Sternle» längst in der Geschichte versunken. Die städtische Kantine am Richard-Wagner-Platz aber musste noch viel aushalten, manchen Kummer bergen, manchen Triumph auskosten. Schauspielchefs und Generalintendanten haben hier gegessen und getrunken: Hansjörg Utzerath, Burkhard Mauer, Raimund Richter, Holger Berg, Wulf Konold, Klaus Kusenberg und Peter Theiler. An der Kantine ist keiner vorbeigekommen.

Auch wenn das neue Schauspielhaus fertig gestellt ist, wird sein wahres Herz im Zwischenbau zum Opernhaus schlagen – mit Bier, Stadtwurst und Senf.

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