Als die Nazis aus Kirchenglocken Waffen schmiedeten

25.12.2017, 14:14 Uhr
Als die Nazis aus Kirchenglocken Waffen schmiedeten

© Foto: Germanisches Nationalmuseum

Mit der Verordnung "Zur Durchführung des Vierjahresplanes über die Erfassung von Nichteisenmetallen" von 1940 sollten alle Glocken im damaligen Reichsgebiet beschlagnahmt werden. Dies geschah auch - bis auf einige wenige, erklärt GNM-Mitarbeiter Matthias Nuding, der das Glockenarchiv betreut. Die rund 90.000 Klangkegel wurden in vier Kategorien von A bis D eingeteilt. Die meisten fielen unter A als "nicht wertvoll": 77 Prozent aller untersuchten Glocken wurden so eingestuft, abgehängt und sofort eingeschmolzen.

Es war eine eiskalte Perversion der damaligen NS–Diktatur: Glocken, die zuvor zum Gottesdienst riefen, in dem über Frieden, Nächstenliebe und Vergebung gepredigt wurde, sollten zu Waffen zur Vernichtung der Feinde umgeschmiedet werden.

Wenige blieben in den Türmen

In einer zweiten Welle wurden die B- und C-Glocken von den Türmen geholt: In Nürnberg kamen - neben vielen anderen - zwei Glocken aus St. Lorenz, jeweils drei weitere aus St. Egidien, St. Ludwig und St. Kunigund weg. Die mit dem Abhängen beauftragte Kreishandwerkerschaft Nürnberg-Stadt und -Land fertigte darüber 1943 ein genaues Protokoll an. Nur sehr wenige, kulturgeschichtlich als besonders wertvoll eingestufte Glocken blieben in den Glockenstühlen.

Die Glocken der Kategorien B und C kamen zu einem großen Sammellager in Hamburg. Tausende waren auf einer gesicherten Freifläche abgestellt, teilweise auch übereinandergestapelt. Ein Kunsthistoriker-Team nutzte die Chance, rund 16.300 Glocken auf Karteikarten zu beschreiben und sie für die Nachwelt zu erhalten.

Als die Nazis aus Kirchenglocken Waffen schmiedeten

© Foto: Voigt

Diese Notizen bilden den Grundstock des Glockenarchivs im GNM, in den 1950er Jahren wurde dieser Fundus ergänzt: Rund 30.000 Karteikarten umfasst das Archiv heute. Die Karten vermerken Durchmesser und Größe, Gewicht, Name, Entstehungsjahr, Gießort und Gießer. Außerdem gibt es ein weißes Feld, auf dem man Inschriften der Glocken oder besondere Verzierungen nachzeichnen konnte.

Bis Kriegsende waren rund 42600 Glocken aus dem einstigen deutschen Reichsgebiet und weitere 33.000 aus Belgien, Frankreich, Holland, Italien, Österreich, Polen, der damaligen Tschechoslowakei und Ungarn vernichtet worden. Im Sammellager standen noch 14.000 deutsche und 2300 ausländische Glocken. Angesichts der enormen Rohstoffknappheit der frühen Nachkriegszeit verschwanden weitere durch Diebstahl. Daher wollte man die übrig gebliebenen Glocken mit Hilfe der Kartei rasch an die Kirchen zurückgeben.

Allerdings mit einer großen Ausnahme: Rund 1300 Glocken stammten aus den einstigen deutschen Ostgebieten jenseits der Oder und Neiße. Die polnische Militärkommission hatte nach Kriegsende die Rückgabe gefordert, die britische Militärregierung (damals für Hamburg zuständig) lehnte dies ab. Die Klangkörper wurden vielmehr an westdeutsche Kirchen geschickt.

Als die Nazis aus Kirchenglocken Waffen schmiedeten

© Foto: Hubert Bösl

Später stimmte die Bundesregierung allerdings dem Vorschlag zu, dass Gemeinden im Osten leihweise ihre alten Glocken ausgehändigt bekämen, bis eine endgültige Entscheidung getroffen würde: Etwa 200 Pfarreien bekamen so ihr Geläut wieder. Eine solche steht aber bis heute aus.

Die Schwierigkeit: "Dort - etwa in Schlesien - wurde die Bevölkerung nach dem Krieg durch Vertreibung komplett ausgetauscht", sagt Historiker Matthias Nuding, "den ursprünglichen Kirchengemeinden als eigentlichen Eigentümern kann man die Glocken also nicht mehr zurückgeben."

Formaljuristisch ist heute die Bundesrepublik Eigentümerin der Glocken, die einst zu Kriegszwecken requiriert worden waren. So muss man eine seltsame juristische Konstruktion, die "Unterleihe", wählen, wenn eine polnische Kirchengemeinde um die Glocken bittet - wie etwa bei der St.-Augustinus-Kirche in Hameln.

Unterleihe bedeutet, dass der Bund zwar weiter Eigentümer bleibt, aber der Überlassung an polnische Christen zustimmt. "Ein Eiertanz", findet Nuding. In Hameln fragten vor drei Jahren Katholiken aus Simoradz nach, ob sie das älteste Denkmal ihrer Gemeinde - eben die Glocke aus dem 15. Jahrhundert - wiederhaben könnten. Für den katholischen Dekan war klar, dass man die Glocke zurückgibt: "Wir haben aus den Wirrungen des Krieges etwas bekommen, das uns nicht gehört", argumentierte der Seelsorger gegenüber der örtlichen Presse.

In seiner Gemeinde gab es aber auch Unruhe über die Rückforderung: "Bei den Vertriebenen kam viel Ärger hoch", berichtete der Dekan. Schmerzliche Erinnerungen und ungute Abneigungen seien wachgerufen worden, wurde er in der Zeitung zitiert.

Dass die deutsche Bevölkerung im Osten nach dem verlorenen Krieg aus ihrer Heimat hinausgeworfen und ihres Besitzes beraubt wurde, haben viele Betroffene ihr Leben lang nicht verwunden. Mit Trauer, Zorn und Schmerz dachten sie daran zurück. Manch einer konnte aber seinen Blick nach vorn richten und die Rückgabe als kleinen Beitrag zur Versöhnung sehen.

Einvernehmliche Rückgabe

Auch heute noch kommen Anfragen aus Osteuropa ans Nürnberger Glockenarchiv, ob man etwas über den Verbleib ihrer verschwundenen Glocken weiß. In Einzelfällen führt dies zur Rückführung, meint der GNM-Mitarbeiter. Allerdings hat er keinen Überblick, wie viele Glocken genau nach Osten wandern. Das Museumsarchiv kann lediglich Hinweise geben, wo die Glocken heute läuten.

Einigen müssen sich dann die betroffenen Kirchengemeinden - wie etwa die Pfarrei St. Birgid in Wiesbaden mit der polnischen Gemeinde St. Urban in Brzeszcze, der sie 2008 eine Glocke aus dem 16. Jahrhundert überlassen hatte, die ursprünglich von dort stammte. "Einvernehmlich", wie GNM-Archivar Nuding betont. Seit Kriegsende hatte sie die hessischen Katholiken zur Messe gerufen, jetzt kündigt sie den polnischen Gläubigen den Gottesdienst an.

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