Angehörige der NSU-Opfer besuchten Tatorte in Nürnberg

2.5.2016, 21:59 Uhr
Das NSU-Opfer Ismail Yasar betrieb einen Dönerstand in der Scharrerstraße. Auch an diesen Tatort führte die Tour der Angehörigen.

Das NSU-Opfer Ismail Yasar betrieb einen Dönerstand in der Scharrerstraße. Auch an diesen Tatort führte die Tour der Angehörigen.

Behutsam streicht sie mit der Hand über die Buchstaben. Wieder und wieder. Vielleicht hat sie gerade sein Lachen im Ohr, den Klang seiner Stimme. Ihr Mann, Mehmet Kubaþik, ist vor fast genau zehn Jahren, am 4. April 2006, von den Mördern des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) in seinem Kiosk in Dortmund erschossen worden. Er war das achte Opfer der Terroristen. Heute steht seine Frau Elif weinend vor der Gedenktafel, die am Ende der Straße der Menschenrechte an die Opfer des NSU erinnert. Dieser Tag ist wichtig für sie, schmerzhaft und tröstlich zugleich. Erst im Februar urinierten Neonazis auf diese Gedenktafel.

Seit rund eineinhalb Jahren sind die Angehörigen der Mordopfer immer wieder gemeinsam in Deutschland unterwegs. Sie besuchen die Tatorte, sehen sich an, wie die Städte an die Toten erinnern, stützen sich gegenseitig in ihrer Trauer. Sie sind sich nahegekommen in all den Jahren. Begleitet werden die Familien von Barbara John, der Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen-Familien der NSU-Verbrechen. In Rostock waren sie bereits, in München, Hamburg und Dortmund.

Opfer des Kölner Nagelbombenanschlags

An keinem Ort sind so viele Menschen vom NSU ermordet worden wie in Nürnberg. Das erste Opfer war der Blumenhändler Enver Þimþek. Acht Kugeln haben die Mörder auf ihn abgefeuert, am 9. September 2000 an der Liegnitzer Straße. Am 11. September ist er im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen.

Die Gruppe trifft sich am Morgen am Schönen Brunnen. Martina Mittenhuber, die Leiterin des Nürnberger Menschenrechtsbüros, begleitet sie zur Straße der Menschenrechte. Die Familie Þimþek ist dabei. Semiya, die Tochter des Ermordeten mit Mann und Kind, Adile, Enver Þimþeks Frau, und Abdulkerem, sein Sohn. Auch Opfer des Nagelbombenanschlags aus der Kölner Keupstraße haben sich der Gruppe angeschlossen und aus Hamburg ist Osman Taþköprü gekommen, dessen Bruder Süleyman ebenfalls zu den Mordopfern gehört.

Semiya Þimþek war 14 Jahre alt, als ihr Vater starb. Sie hat ein Buch über das Leid der Familie geschrieben. "Schmerzliche Heimat" heißt es. Heute lebt sie in der Türkei. Dort, wo ihr Vater begraben liegt. "Es ist gut, dass wir die Gelegenheit haben, hier zusammenzukommen", sagt sie. „Wir wollen als Gruppe ein Zeichen setzen.“ Ein leichter Tag sei das nicht. Für niemanden. An dem Ort, an dem ihr Vater ermordet wurde, wird sie später Menschen treffen, die an ihn erinnern. Fritz Weispfennig aus Moorenbrunn, der seit zwei Jahren Türkisch lernt und seine Frau Elisabeth zum Beispiel. Sie gehören zu den Bürgern, die auf eigene Initiative hin das Andenken an Enver Þimþek in Ehren halten.

22 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, als an der Keupstraße in Köln am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe explodierte. Auch eine Tat des NSU. Unter den Opfern befand sich Abdullah Özkan. "Die Bilder gehen nicht weg", sagt er. "Die körperlichen Wunden heilen, aber die Seele ist kaputt." Immer wieder holt ihn der Schrecken ein, er ist ein ständiger Begleiter. Auch in seinen Träumen. "Wer sagt, er sei geheilt, der lügt."

Osman Taþköprü hat 2001 seinen Bruder Süleyman verloren. Der 31-Jährige wurde in seinem Lebensmittelladen in Hamburg-Altona von der NSU-Terrorzelle hingerichtet. Gefunden hat ihn sein Vater Ali. Wie all die anderen Angehörigen der Opfer ist Taþköprü enttäuscht von den Behörden, wütend auf die Ermittler, die so lange so verbohrt in die falsche Richtung schauten. Und er ist müde angesichts des Prozesses gegen Beate Zschäpe, von dem sich kaum noch jemand etwas erhofft. "Das wühlt uns alle sehr auf." Er verfolgt das Verfahren mittlerweile nicht mehr. "Diese ganze verlogene Sache tue ich mir nicht an. Ich erwarte von dem Gericht nicht viel. Ich werde von unserem Anwalt über das Geschehen informiert. Das reicht mir."

Abdulkerim Þimþek ist der einzige aus seiner Familie, der noch in Deutschland lebt. Er studiert in Frankfurt, ob er auf Dauer bleiben wird, weiß er nicht. Er hat das Gefühl, dass sich Deutschland mehr und mehr spaltet. AfD, Pegida, Neonazi-Aufmärsche in deutschen Städten – eine Entwicklung, die ihm Sorge bereitet. Dass er hier in Nürnberg Menschen trifft, die das Andenken der Opfer wach halten, mache ihn aber sehr froh, sagt er später Oberbürgermeister Ulrich Maly.

Semiya Þimþeks kleiner Sohn Yigit-Cas ist zweieinhalb Jahre alt und folgt der Gruppe so gut es auf kurzen Beinchen möglich ist. Tapfer zieht er jetzt sein Roll-Köfferchen mit Spiderman-Bild hinter sich her und pflückt seiner Mutter Löwenzahn vom Straßenrand. Ein Freudenspender an diesem traurigen Tag. Warum er mit Mama und Papa aus der Türkei nach Nürnberg gekommen ist, weiß er nicht. Später einmal wird er erfahren, was seinem Großvater angetan wurde. Er wird vor der Stele stehen, die den Namen Enver Þimþek trägt, und begreifen, was sie zu bedeuten hat.

Der Bus setzt die Gruppe an der Scharrerstraße ab, wo der Imbissbuden-Besitzer Ysmail Yasar 2005 ermordet wurde. Auch hier warten Menschen auf die Familien der Opfer, die sich gegen das Vergessen einsetzen. Sie erzählen von dem freundlichen Mann, den so viele kannten und mochten. Sie wollen sein Andenken bewahren. In der Südstadt, wo Abdurrahim Özüdogru in seiner Änderungsschneiderei ermordet wurde, hat sich ebenfalls eine Bürgerinitiative gegründet, der es nicht genügt, dass nur ein Bild des Opfers an der Mauer hängt. "Wir wollen stärker darauf eingehen, was hier passiert ist", sagt Barbara Sterl.

Misstrauen statt Mitgefühl

An der Liegnitzer Straße, auf dem Parkplatz, auf dem Enver Þimþek erschossen wurde, steht Ali Toy und hält Zeitungsausschnitte in die Kameras. Er hat alles gesammelt, was er über die NSU-Verbrechen finden konnte. Auch er ist Opfer. Er hätte an jenem 9. September 2000 Blumen verkaufen sollen. Doch er musste verreisen, und sein Chef Enver Simþek sprang für ihn ein.

Auch Ali Toy wird sich ein Leben lang die Frage nach dem Warum stellen. Warum er lebt und sein Chef sterben musste. Der Schmerz ist auch für ihn allgegenwärtig. Aber er macht weiter: Jedes Wochenende verkauft er Blumen an der Liegnitzer Straße, am Ort der Tat. Er erinnert sich an all die Verdächtigungen, die die Familien der Opfer aushalten mussten. Misstrauen statt Mitgefühl schlug ihnen entgegen. "Ich habe den Ermittlern gesagt, dass Enver von Neonazis ermordet worden ist. Aber niemand hat mir damals geglaubt."

Dieses Video wird präsentiert von Franken Fernsehen:

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