Aus tausend Texten ausgesucht

17.12.2008, 00:00 Uhr

Was ist eigentlich eine Anthologie? Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Blütensammlung. Das Sammeln war für Marco Frohberger eine relativ einfache Angelegenheit: Er musste nur die Einladung, einen Text zu einem gewissen Thema zu verfassen, ins Netz stellen. Die Blütenlese war die eigentliche Arbeit. Die Spreu vom Weizen zu trennen und aus rund 1000 Einsendungen die 36 besten oder originellsten herauszufiltern und zwischen zwei Buchdeckel zu passen, das erforderte Zeit, kritische Sicht und Diskussion mit Gleichgesinnten. Und aus den 36 die drei besten zu küren, war sicher auch nicht einfach.

Zur Buchpräsentation in der Kulturwirtschaft des Komm lasen die Preisträger der erst- und zweitplatzierten Kurzgeschichten. Stellvertretend für den dritten Preisträger las die Schirmherrin des Unternehmens, die Bundesministerin a. D. Renate Schmidt. Und das muss man der SPD-Abgeordneten lassen: Sie kann sehr warmherzig vortragen. So sehr, dass der geneigte Zuhörer bei der Geschichte um eine Selbstmörderin, die auf ihrem letzten Weg ihr Leben Revue passieren lässt, um die Vorleserin fürchtet.

Verträgt sich das eigentlich, Politik und Dichtung? Abgesehen davon, dass Dichter wie Politiker das Blaue vom Himmel versprechen? Renate Schmidt wirft einen sehnsüchtigen Blick nach Frankreich: «Dort stellt sich diese Frage gar nicht.» Hierzulande tut man sich mit dieser Allianz schwerer. Renate Schmidt zitiert Dieter Lattmann: «Zwischen Politik und Literatur gibt es keine Gemeinsamkeit. Erstere ist extrovertiert, die zweite introvertiert.» Jedoch: Ein Literat schreibt nicht fürs stille Kämmerlein. Und «jede Politikerin ist eine taube Nuss, wenn sie nicht öffentlich wahrgenommen wird», so Schmidt.

Und was ist nun das Geheimnis des Augenblicks? Oft sind es ganz spezielle Momente der Begegnung, der Entscheidung, der Zuspitzung einer Situation, auf die die Autoren hinarbeiten. Aber wenn auch so ein flüchtiger Moment ein Davor und ein Danach kennt, bleibt im Gedächtnis doch der eigentliche Moment haften, und nicht der Zeitrahmen drumherum. So schildert die Zweitplatzierte Adriana Kapsreither aus Wien eine Silvesternacht und die ersten Tage des neuen Jahres als eine Jagd auf Momentaufnahmen, die der Jäger seltsam emotionslos absolviert.

Und die Hauptpreisträgerin, die junge Line Anna Gassen aus Fürth, verzichtet gar auf eine durchgehende Handlung und streut scheinbar unzusammenhängende Fragmente aus jeweils ein bis zwei Sätzen aufs Papier. Tatsächlich handelt es sich bei «Zeit Geist Stunden» um eine gescheiterte Beziehungsgeschichte. Doch die Autorin hat das Mosaik der Handlung in seine Steinchen zerlegt. Der Leser muss die Textsteinchen erst wieder mühsam zu einem Ganzen zusammenfügen.

Eine Geschichte also, die den Literaturfreund beim erstmaligen Zuhören ratlos zurücklässt, beim mehrmaligen Lesen jedoch für sich gewinnt. Wie auch das entwaffnende Geständnis der Autorin: «Meist ist am Anfang ein Wort da, oder ein Satz. Und dann kommen andere Wörter hinzu, und dann gründen sie eine Familie.» Reinhard Kalb

Marco Frohberger (Hg): «Augenblick». 1-2-buch.de. 190 Seiten, 16,40 Euro.

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