Bitteres Elend und trotzdem ein Stückchen Heimat

9.5.2010, 00:00 Uhr
Bitteres Elend und trotzdem ein Stückchen Heimat

© Volker Ranke

Dem Abriss der berüchtigten Siedlung steht nichts mehr im Weg. Das Lager soll dem Bau einer modernen Trabantenstadt in Langwasser Platz machen, um den großen Bedarf an bezahlbaren Wohnungen zu decken.

Bei den Nürnbergern ruft die endgültige Räumung unverhohlene Erleichterung hervor. Denn die Stimmung in dem zeitweise heillos überbelegten Lager ist hochexplosiv. Seit 1946 sind dort bis zu 4500 Personen aus über 30 Nationen unter primitivsten Bedingungen in zugigen Holzbuden untergebracht. Es handelt sich vor allem um sogenannte Displaced Persons, also durch den Krieg entwurzelte Menschen ohne Heimat und Zukunft.

Zwangsarbeiter, Ostblockflüchtlinge und Nazikollaborateure

Es sind vor allem ehemalige Zwangsarbeiter, Ostblockflüchtlinge und Nazikollaborateure, die hier leben. Die meisten stammen aus Osteuropa, anfangs viele Letten und Esten – deshalb wird die Siedlung auch nach der lettisch-estnischen Grenzstadt Valka benannt. Sie wollen nach Übersee auswandern, um ein neues Leben zu beginnen.

Die meisten schaffen es aber nicht, weil sie krank, zu alt oder beruflich nicht ausreichend qualifiziert sind. So sind sie der Fürsorge ausgeliefert. Bis zu vier Personen drängen sich in den zehn Quadratmeter kleinen Zimmern der Holzhütten. Für bis zu 12 Insassen gibt es nur eine Toilette und einen Wasserhahn.

»Wie ein Bienenstock«

Die Schriftstellerin Natascha Wodin, Tochter ukrainischer Flüchtlinge, wuchs im Valka-Lager auf und beschreibt im Buch »Langwasser – Geschichte eines Stadtteils« die Zustände sehr anschaulich: »Die Baracke ist wie ein Bienenstock. Eine Wabe neben der anderen. Jede angefüllt mit Geräuschen von Kindern, Arbeitslosen, Betrunkenen, schreienden Frauen, wenn sie geschlagen werden, Essgeräuschen, Schlaggeräuschen. Ob sich jemand nebenan schneuzt, ob er rülpst, furzt, schnarcht oder stöhnt, alles fließt ein in den großen Topf des Barackendaseins.«

Kein Wunder, dass es in Enge und Elend zu Streitigkeiten und Gewalt kommt. Im März 1951 machen Gerüchte über eine steigende Kriminalität die Runde. Die Folge: Bei einer Großrazzia der Polizei werden 70 Personen festgenommen, Diebesgut und amerikanische Zigaretten sichergestellt. Im Nachhinein scheint die Aktion überzogen. Ein US-Polizeigericht erklärt sie kurz darauf für ungesetzlich, die Festgenommenen werden wieder freigelassen.

Arbeitslosigkeit, Gewalt und Kriminalität

Doch eines bewirkt der Einsatz: Er schürt das Misstrauen gegenüber den Insassen des Valka-Lagers und verstärkt deren Isolierung in der Ghetto-ähnlichen Siedlung. Hoffnung zieht erst ein, als Heinz von Homeyer Lagerleiter wird. Er will die Bewohner zu mehr Eigeninitiative motivieren und die Infrastruktur verbessern.

Es entstehen eine Schuhmacherei, eine Teppichknüpferei, eine Schneiderwerkstätte und eine Schlosserei, Schulräume und ein Kindergarten. Ein guter Ansatz: Denn die Arbeitslosigkeit ist laut den Nürnberger Nachrichten das Kernproblem im Lager. »1951 haben von 2300 Insassen nur 320 eine Arbeit.« Ungeachtet aller Qualifikationen, die manche Bewohner vorweisen können, ist es für sie schwer, einen Job zu finden.

1954 wird die Barackensiedlung – gegen den Widerstand der Stadt Nürnberg, die ihr Bauvorhaben bedroht sieht – zum »Sammellager für Ausländer« umgestaltet. Es fungiert als Auffangstation für alle Asylsuchenden und illegal Eingereisten, bis ihr weiterer Aufenthalt geklärt ist. Das Valka-Lager ist damit der Vorläufer des Bundesamtes zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, das einige Jahre später in Zirndorf entstehen wird und seinen Verwaltungssitz heute in der ehemaligen Südkaserne in Nürnberg hat.

Eine mit Stacheldraht gekrönte Betonmauer

1953 ist es für die Bewohner der Barackensiedlung in Langwasser ein Schock, als für das Sammellager plötzlich eine mit Stacheldraht gekrönte Betonmauer hochgezogen wird. Viele von ihnen hatten ja die nationalsozialistische Herrschaft, eine bange Existenz im KZ oder als Kriegsgefangene hinter hohen Zäunen erlebt.

In den folgenden Jahren bemüht sich die Stadt Nürnberg immer wieder um eine Auflösung des Valka-Lagers. Nach der Grundsteinlegung für den neuen Stadtteil Langwasser spitzt sich die Lage zu. Der Hockkommissar für das Flüchtlingswesen der UN plädierte für eine Verlegung nach Zirndorf. Von den Nürnberger Nachrichten wird er mit folgenden Worten zitiert: »Das Valka-Lager muss weg, nicht nur weil es baufällig ist und nicht mehr menschlichen Verhältnissen entspricht«, sondern weil man von der Tradition des Namens loskommen müsse.


Suche nach alten Spuren

1959 kündigte sich der Umzug an. Immer mehr Bewohner der Barackensiedlung werden in andere Lager verlegt. Der Bund erklärt sich bereit, in Zirndorf Verwaltungs- und Wohngebäude für mehrere Hundert Asylsuchende zu bauen. Mit gut 400 Menschen ist die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Zirndorf immer noch gut belegt.

Doch ungeachtet der sozialen und politisch-religiösen Differenzen war das Valka-Lager für manche Bewohner nicht nur eine trostlose Endstation, sondern auch ein Zuhause. Der Verein »Geschichte für Alle« lässt in seinem Buch über Langwasser den ehemaligen Bewohner Rene T. zu Wort kommen. Er habe als Kind in so vielen Flüchtlingslagern gelebt. Das Valka-Lager in Langwasser aber sei die einzige Heimat gewesen, die er je hatte. »Ich gehe heute noch mit wehem Blick hin und suche einzelne Bäume, die ich von früher kenne.«

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