Bratwürste ersetzten die Soldaten

22.12.2017, 17:54 Uhr
Die um 1912 entstandene historische Ansichtskarte zeigt noch die „Alte Schau“, obwohl es die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gab.

© Verlag Hermann Martin, Sammlung Sebastian Gulden Die um 1912 entstandene historische Ansichtskarte zeigt noch die „Alte Schau“, obwohl es die zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gab.

Sie haben das zauberhafte Gebäude auf unserem historischen Schneebild links neben der Sebalduskirche noch nie in natura gesehen? Dann befinden Sie sich in bester Gesellschaft mit den Zeitgenossen des anonymen Künstlers, der zwischen 1905 und 1912 die Vorlage für die Ansichtskarte geschaffen hat. Als dieser nämlich zu Feder und Pinsel griff, gab es die "Alte Schau", in der einst ein städtischer Beamter die Nürnberger Goldschmiedewaren geprüft hatte, längst nicht mehr. Beschiss? Das wäre zu hart – eher eine verkaufsfördernde Sehnsuchtsbekundung.

Die Begeisterung für die Schöpfungen der Gotik hielt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Grenzen. Mit ihrer malerischen Asymmetrie, bizarren Türmchen und Spitzbogen war sie der natürliche Feind der auf den Prinzipien von Vernunft, Klarheit und Ordnung gegründeten Kunst des Klassizismus. Und so musste die Alte Schau 1809 dem Neubau der Hauptwache weichen. Ob das ein rabiater Versuch der königlich-bayerischen Regierung war, den Nürnbergerinnen und Nürnbergern ihren Lokalpatriotismus auszutreiben – die alte Reichsstadt war erst drei Jahre zuvor untergegangen – muss Spekulation bleiben.

Von der Amtsstube zur Bratwurstküche

In jedem Fall war die 1454 erbaute und später mit üppigen Fassadenmalereien verzierte Alte Schau mit ihrem kecken Giebel und der gewaltigen Uhr eines der prächtigsten Symbole für die Macht und Kunstfertigkeit der Reichsstadt Nürnberg. Gefallen haben die Stadtbewohner an ihrem klassizistischen Nachfolger nie gefunden. Karl Alexander Heideloff und Heinrich Wallraff arbeiteten sogar nacheinander Pläne für einen Wiederaufbau des spätgotischen Gebäudes aus. 1904 gab es deswegen böses Blut zwischen der Stadt Nürnberg und dem Generalkonservatorium (dem Vorläufer des Landesamts für Denkmalpflege) in München: Die Nürnberger wollten ihre Schau zurück, die Münchner die Hauptwache erhalten. Am Ende blieb alles wie gehabt.

Die unbeliebte Hauptwache und St. Sebald im Jahr 1902. Auf der Plattform vor dem Gebäude taten bis 1903 Soldaten der bayerischen Armee Dienst.

Die unbeliebte Hauptwache und St. Sebald im Jahr 1902. Auf der Plattform vor dem Gebäude taten bis 1903 Soldaten der bayerischen Armee Dienst. © Hermann Martin, Sammlung Sebastian Gulden

Bis zum 2. Januar 1945: Da brannte die Hauptwache mitsamt der Sebalduskirche aus, wurde im Gegensatz zu dieser aber nicht wiederaufgebaut. An ihre Stelle trat das "Bratwursthäusle", das seit 1959 Nürnbergs beliebteste kulinarische Spezialität zubereitet – damals noch zum Preis von 30 Pfennigen pro Wurst. 1964 übernahm Werner Behringer das Wirtshaus. Mit seinem hohen Walmdach und den mit Sandstein verkleideten Fassaden fügt sich das von Friedrich Seegy geplante Gebäude harmonisch in die Umgebung ein.

Unser historisches Schneebild drückt die Sehnsucht nach der "guten, alten Zeit" aus, die die Nürnberger schon vor rund einem Jahrhundert touristisch zu nutzen wussten. Ein Besuchermagnet ist "des Reiches Schatzkästlein" schon damals gewesen. Verleger Hermann Martin, der unsere beiden historischen Ansichtskarten druckte, zog die Weihnachtsromantik-Schrauben besonders heftig an: Neben der "Alten Schau" ließ er das Motiv mit Puderzuckerschnee und wolkenverhangenem Himmel im mystischen Licht des Vollmonds garnieren.

Dieselbe Perspektive im Dezember 2017 – das „Bratwursthäusle“ trat an die Stelle der Hauptwache, die beim Bombenangriff am 2. Januar 1945 zerstört und nicht mehr aufgebaut wurde.

Dieselbe Perspektive im Dezember 2017 – das „Bratwursthäusle“ trat an die Stelle der Hauptwache, die beim Bombenangriff am 2. Januar 1945 zerstört und nicht mehr aufgebaut wurde. © Sebastian Gulden

Wer sich wundert, warum der Zeichner die Besuchermassen des Christkindlesmarkts weggelassen hat, sei beruhigt. Hierbei handelt es sich keineswegs um einen weiteren Versuch von Verbrauchertäuschung. Den Markt gab es hier damals noch nicht bzw. nicht wieder.

Erst die Nationalsozialisten unter Oberbürgermeister Willy Liebel bliesen den Markt, der seit 1628 nachweisbar ist, zur Massenveranstaltung auf. Vom nationalistischen Getöse befreit, ist er heute Treffpunkt für Weihnachtsfreunde aus aller Welt.

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