Der lange Weg zum Grab des Vaters

29.4.2015, 21:23 Uhr
Der lange Weg zum Grab des Vaters

© Foto: Eduard Weigert

Der lange Weg zum Grab des Vaters

Auf diesen Moment hat sich Ljubow Sachno gut vorbereitet. Auf der Platte, auf der auch der Name ihres Vaters steht, breitet die Ukrainerin ein traditionelles handbesticktes Tuch, das man in der Ukraine Ruschnyk nennt, sehr sorgfältig aus. Sie stellt ein Brot darauf, das ebenfalls verziert ist. Auch Kerzen hat sie aus der Ukraine mitgebracht. Und ein bisschen ukrainische Erde, die sie auf die Platte streut. Ein Stückchen Heimat für ihren Vater an seiner letzten Ruhestätte — dem Gemeinschaftsgrab für Zwangsarbeiter aus Osteuropa am Südfriedhof.

Immer wieder streicht die 72-Jährige über den Namen ihres Vaters und lässt ihren Tränen freien Lauf. Anders kann es gar nicht sein. Für sie ist es das erste Mal, dass sie am Grab ihres Vaters stehen kann. Erst einige Wochen vor der Reise hat der Arbeiter-Samariter-Bund das Grab von Fjodor Bigun, dem Vater von Ljubow Sachno, ausfindig gemacht. Er und
seine Frau haben als Zwangsarbeiter hier in einer Fabrik gearbeitet. Mit gerade mal zwanzig Jahren wurde
Fjodor Bigun im Lager so heftig zusammengeschlagen, dass er kurz darauf den Folgen seiner Verletzungen erlag.

Mit Nürnberg verbindet die Kiewerin aber mehr als die Zwangsarbeit ihrer Eltern und den gewaltsamen Tod ihres Vaters. In dieser Stadt kam Ljubow Sachno im Januar 1943 zur Welt. An den Vater hat sie keine bewusste Erinnerung. Er starb, als sie zehn Monate alt war. Was ihr geblieben ist, ist ein Foto, auf dem Fjodor Bigun sie auf dem Arm hält — und viele Erzählungen ihrer Mutter, die mit 19 Jahren bereits Witwe wurde.

„An meinen Papa habe ich immer viel gedacht und ihn schmerzlich vermisst“, erzählt die Seniorin. An seinem Grab stehen zu können, bedeutet der ehemaligen Ingenieurin sehr viel: „Mir fällt jetzt ein Stein vom Herzen.“ Für die Ukrainerin besonders wichtig: „Meine Mutter lebt noch. Sie konnte kaum abwarten, bis ich endlich hier sein konnte. Sie ist 90 Jahre alt und schon sehr schwach.“

Alles andere als Willkommen

Seit vielen Jahren engagiert sich Ljubow Sachno im Ukrainischen Bund der Zwangsarbeiter und der NS-Opfer. Der Verband entstand erst Ende der 1980er Jahre. Vorher wäre es kaum möglich gewesen. „Zwangsarbeiter und ihre Kinder wurden oft beschimpft“, erinnert sich Sachno. Diese Menschen mussten bei der Rückkehr in ihre Heimat die Erfahrung machen, dass sie alles andere als willkommen waren. Sie wurden oft gedemütigt und benachteiligt. Auch die 72-Jährige hat viele Jahre ihren Geburtsort geheim gehalten. In ihrer Geburtsurkunde war das Heimatdorf ihrer Eltern angegeben. Diese Erfahrung teilt sie mit allen in der Gästegruppe aus Kiew. „Meine Mutter hat immer verheimlicht, dass sie als Zwangsarbeiterin in Deutschland war“, erzählt Ludmila Dijuk.

Die Mutter von Dijuk lebt noch. Vom ASB in Kiew bekommt die 91-Jährige Hilfe. „Sie helfen, wo sie können. Besorgen für sie Medikamente. Die Menschen kümmern sich einfach rührend um meine Mama“, erzählt die 62-Jährige. Möglich wird es durch die finanzielle Unterstützung des ASB in Deutschland. „Das bedeutet meiner Mutter viel, zu sehen, dass sie nicht vergessen wurde.“ Der Bedarf an Hilfe für die NS-Zwangsarbeiter und deren Kinder ist groß, erzählt auch Ljubow Sunjajewa: „Alleine in Kiew zählt unser Ukrainischer Bund der Zwangsarbeiter und der NS-Opfer mehr als 5000 Mitglieder. Vielen geht es vor allem finanziell ganz schlecht, weil sie nur kleine Renten beziehen.“ Die 70-Jährige ist in Berlin auf die Welt gekommen und seit vielen Jahren im internationalen Büro des Bundes tätig. Die in Deutschland gesetzlich geregelte Entschädigung steht nur den NS-Zwangsarbeitern zu, die in der Produktion eingesetzt wurden. Deren Kinder, die ebenfalls nach Deutschland verschleppt oder hier geboren wurden, zählen nicht dazu, genauso Menschen, die etwa auf einem Bauernhof arbeiten mussten. Umso wichtiger sind für die Betroffenen andere soziale Initiativen, auch aus Deutschland.

Für die Gästegruppe ist es ein Tagesausflug nach Nürnberg, den Rest der Woche verbringen sie in Kiews Partnerstadt München, woher auch die Einladung für die Reise kam. In Nürnberg stand bei den Kiewern viel auf dem Programm. „Wir sehen all die Bemühungen, damit die NS-Opfer nicht in Vergessenheit geraten“, sagt Ljubow Sunjajewa. Groll auf Deutschland hat keiner der Gäste, betont die 70-Jährige: „Unsere Eltern haben Schlimmes erlebt, aber es gab auch Menschen, die ihnen geholfen haben. Wir setzen auf Verständigung zwischen unseren Völkern.“

Der ASB unterstützt ehemalige NS-Zwangsarbeiter und deren Kinder in der Ukraine und freut sich über Spenden: IBAN DE49 7605 0101 0240 1621 31; Konto 240 162 131; Sparkasse Nürnberg, BLZ 760 501 01; Verwendungszweck: „Ukrainehilfe“.

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